Falko Droßmann (SPD), Mitglied des Deutschen Bundestags aus Hamburg und u.a. im Verteidigungs- und Menschenrechtsausschuss tätig, zeigt klare Kante. Der von der Bundeswehr freigestellte Oberstleutnant verlangt von der Ampelregierung in Berlin erst eine nationale Sicherheitsstrategie statt schnelles verpulvern der 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Und er positioniert sich – anders als sein Hamburger CDU-MdB-Kollege Christoph de Vries – bei den Ursachen der Silvester-Böller-Attentate auf Polizei und Feuerwehr, dass fehlende Bildung und Berufsabschlüsse unabhängig von der Herkunft Grund für die Exzesse sei. Ein Analyse-Gespräch
Einer von uns – aus Hamburg, für Hamburg, in Berlin. Seit September 2021 ist der frühere Mitte-Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) für den Hamburger Wahlkreis 18 Mitglied im Deutschen Bundestag (MdB). Schon als Bezirkschef war Droßmann bekannt für klare Kante – gegenüber Straftätern wie auch wortgewaltigen Schönrednern wie im Einzelfall auch mal gegenüber den eigenen Genossen. Dass er als Oberstleutnant eine entwaffnend pragmatische Seite hat, liegt sicher auch in seinen frühen Polizei-Lehrjahren und den 20 Jahren Bundeswehr, von der er als Oberstleutnant für seine politische Berufsarbeit freigestellt ist. Als Mitglied im Verteidigungs-, Abrüstungs- und Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags lässt er im aktuellen Gespräch mit der HafenCity Zeitung genauso wenig an Klarheit zu wünschen übrig („Wir sind verpflichtet erst die ethischen und strategischen Fragen zu beantworten, um dann ein Ausrüstungs- und Modernisierungskonzept der Bundeswehr zu beschließen“) wie beim Urteil zu den Silvester-Böllereien, die für ihn „kein Integrations- und Migrationsthema, sondern ein Bildungsthema für alle jüngeren Menschen, die keine abgeschlossene Ausbildung und keine Arbeit haben“, ist. Und zu den Silvester-Böller-Attentaten auf Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte sagt Droßmann, dass „eine Straftat eine Straftat“ sei und schneller mit den ausreichenden Gesetzen hart bestraft werden müsse. Und er bescheinigt seinem Hamburger MdB-Kollegen Christoph de Vries (CDU), der die Silvester-Ereignisse als Scheitern rot-grüner Integrations- und Migrationspolitik begreift, dass er die Silvester-Böllerei „mit den Themen Abschiebung und Migration verbindet. Und das hat oftmals rassistische Züge“. Wir wünschen eine erhellende Lektüre.
Foto oben: MdB Falko Droßmann, SPD: „Die Ultima Ratio, der Sinn von Militär ist, mit Waffen auf andere Menschen einwirken. Das wird gerne mal immer wieder vergessen. Wir sind verpflichtet erst die ethischen und strategischen Fragen zu beantworten, um dann ein Ausrüstungs- und Modernisierungskonzept der Bundeswehr zu beschließen. Das hat bisher nicht ausreichend stattgefunden.“ © Maurice Weiss
Herr Droßmann, Sie sind seit knapp anderthalb Jahren neu und direkt gewählt im Bundestag und dort im Verteidigungs-, Abrüstungs- und Menschenrechtsausschuss sowie als Stellvertreter im Auswärtigen Ausschuss aktiv. Seit 24. Februar 2002 haben diese Gremien mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine viel zu tun. Wie geht es Ihnen an der Spree? Ich bin nach Berlin gegangen, weil ich soziale Ungerechtigkeit in unserem Land festgestellt habe, die ich als Verwaltungschef des Bezirks-Mitte in Hamburg nicht ändern konnte. Da konnte ich immer nur Symptome behandeln. Leider ist meine Partei meiner Bitte, mich in den Sozialausschuss zu entsenden, nicht gefolgt. Es gab halt über 100 Bewerbungen auf wenige Plätze und man wollte mich mit meinen 20 Jahren Bundeswehr-Erfahrung gerne im Verteidigungsausschuss haben.
Wie kam es dann zur Arbeit auch noch im Menschenrechtsausschuss und Auswärtigen Ausschuss? Verteidigung sehe ich nicht als singuläres, militärisches Thema, sondern ist weltweit immer auch in einen größeren, gesellschaftlichen Rahmen und in internationale Beziehungen eingebettet, denn Verteidigungshandeln hat überall in der Welt auch immer mit jeweiliger Außenpolitik und vor allem auch menschenrechtspolitischen Fragen zu tun – etwa beim Iran-Atomabkommen, wo es um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nicht-Verbreitung von Atomwaffen geht. Und unser aller Leben und unsere Aufgaben in den Ausschüssen hat sich natürlich mit dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine massiv verändert.
Inwiefern? Hätte ich mich 2021 beim Wahlkampf für den Bundestag als Falko Droßmann und Oberstleutnant der Bundeswehr hingestellt und 100 Milliarden Euro für die schlecht ausgestattete Bundeswehr gefordert, wäre ich ausgelacht worden. Obwohl es kein Geheimnis war und ist, dass die Bundeswehr keinen Ruf als tolle einsatzfähige Truppe hatte. Dass wir sie jetzt im vergangenen Jahr unter dem Eindruck der Zeitenwende so radikal neu aufstellen konnten, dazu habe ich auch einen kleinen Teil zu beitragen können, weil ich die Bundeswehr bestens kenne.
Fordern Sie als Oberstleutnant wie so viele in der Ampelkoalition wie in der Opposition bedingungslos Waffen für die Ukraine? Definitiv nein. Ich halte nicht viel von einer reinen Kanonenboot-Politik, die einige in der Bundesregierung forcieren möchten. Mir ist das ethische und das strategische Gerüst für die Aufrüstung und die bessere Ausstattung der Bundeswehr extrem wichtig. Bevor wir beschließen, für was wir die 100 Milliarden Euro eigentlich ausgeben wollen, müssen wir uns doch zuerst folgende Fragen beantworten: Welche Aufgaben soll die Bundeswehr künftig haben? Eine Verteidigungsarmee oder eine mit Hightech ausgerüstete Kriseneingreiftruppe oder im Rahmen von EU-, UNO- und Nato-Missionen einsatzfähige Kampftruppe? Das muss doch erst geklärt werden, bevor wir entscheiden mit was und wie wir die Bundeswehr modernisieren wollen. Das ist doch keine Spaßveranstaltung, wo wir mal ein paar Milliarden hingeben, sondern beim Thema Bundeswehr und Ausrüstung, beim Militär geht es immer um Leben und Tod! Ansonsten habe ich zum Beispiel Instrumente wie Entwicklungshilfe oder anderes. Die Ultima Ratio, der Sinn von Militär ist, mit Waffen auf andere Menschen einwirken. Das wird gerne mal immer wieder vergessen und daran muss man denken, wenn man Menschen und Armeen mit Waffen ausrüstet. Wir sind verpflichtet erst die ethischen und strategischen Fragen zu beantworten, um dann ein Ausrüstungs- und Modernisierungskonzept der Bundeswehr zu beschließen. Das hat bisher nicht ausreichend stattgefunden.
Wird nicht zu wenig über Feuerpausen und Friedensverhandlungen gesprochen? Wie soll denn in der Ukraine wieder Frieden hergestellt werden? Frieden kann es nur geben, wenn die Russische Föderation die völkerrechtlich anerkannten Grenzen der Ukraine von 2014 also mit der Krim akzeptiert. Alles andere geht nicht. Und für alles andere werde ich mich auch nicht stark machen. Wenn die Ukrainer sagen, wir verhandeln jetzt mit Russland, dann bin ich der Erste, der dazu steht. Die Initiative dazu kann nur von den Überfallenen ausgehen. Mir ist noch eins wichtig: Die russische Aggression hat zwar das Fass zum Überlaufen gebracht hat, aber die Zeitenwende war auf Grund der vielen – auch militärischen – Konflikte in der Welt absolut überfällig.
Vita: Falko Droßmann
ist seit September 2021als SPD-Abgeordneter des Hamburger Wahlkreises 18 – Bezirk Mitte ohne Wilhelmsburg und die Stadtteile Barmbek-Nord, Barmbek-Süd, Dulsberg, Hohenfelde und Uhlenhorst – zum ersten Mal Mitglied des deutschen Bundestages (MdB). Er arbeitet für die SPD im Verteidigungsausschuss, Abrüstungsausschuss und im Menschenrechtsausschuss mit, ist stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und seit Februar 2022 queer-politischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
Der 49-Jährige ist im Oberbergischen, in Wipperfürth bei Köln, als Sohn eines Busfahrers und einer Putzfrau geboren, ging mit 17 Jahren zur Polizei in Nordrhein-Westfalen und holte sein Abitur nach. Er studierte an der Universität der Bundeswehr in Hamburg Geschichtswissenschaften, schloss mit Magister Artium ab und wurde Berufsoffizier. Falko Droßmann ist seit 2001 in der SPD und wurde 2011 Chef der SPD-Bezirksfraktion in Mitte. Von Februar 2016 war er bis zu seinem Wechsel in den Bundestag im September 2021 Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte. Falko Droßmann ist seit 1. Oktober 2017, dem Tag der Einführung der Ehe für alle, mit seinem Partner Denny verheiratet und lebt, wenn er nicht in Berlin ist, in der HafenCity.
Wie kann denn eine Friedensregelung aussehen? Ich werde nicht hinter dem Rücken der Ukrainer, deren Heimatland überfallen wird, deren Frauen, Kinder, Zivilisten, Soldatinnen und Soldaten und Bürgerwehren gerade sterben, mit Putin verhandeln. Und ich hoffe auch, dass es unsere Bundesregierung nicht tut. Das bedeutet nicht, dass wir in Form eines alten Hurrapatriotismus jetzt in die Schlacht in der Ukraine ziehen. Deshalb finde ich auch das bedachte und immer auch angepasste Handeln der Bundesregierung gut an dieser Stelle.
Warum? Weil wir eine weltweite Zeitenwende haben. Was ist eigentlich mit einer deutschen China-Strategie? Wie gehen wir damit um, dass 75 Prozent aller auf der Welt verbrauchten Chips aus dem westlich orientierten Taiwan kommen, das Land, das China für sich offensiv beansprucht? Und was macht das wiederum mit unserer eigenen Außen- und China-Politik? Wenn wir doch eins vom Ukraine-Überfall durch die Russische Föderation gelernt haben, dass wir unsere nationalen Abhängigkeiten von anderen überprüfen und so gering wie möglich halten müssen.
Ein Beispiel? Gerade in Hamburg haben die wirtschaftliche Perspektive auf den China-Handel und das unerlässliche Funktionieren des Hafens und zum Beispiel eine mögliche chinesische COSCO-Beteiligung am HHLA-Terminal Tollerort eine ganz andere Bedeutung, als für die nationale und internationale Sicherheitspolitik und Strategie der Außenpolitik Deutschlands. Hamburgs wirtschaftliche Interessen sind nicht automatisch Deutschlands Sicherheitsinteressen. Diese Themen sind alle mit der Strategie der Aufrüstung der Bundeswehr und ihrer neuen Ausrichtung verbunden. Die müssen schnell und zielorientiert geklärt werden.
Wie kann es zum Frieden kommen und wer kann ihn sichern? Die UNO? Ein nachhaltiger Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen kann nur mit der Ukraine in den Grenzen von 2014 mit der Krim geben. Das ist die allgemein anerkannte deutsche Position, auch des Kanzlers. Denkbar wäre eine Mediation durch das Generalsekretariat der UNO, der Vereinten Nationen. Der Haken daran: Darauf müssen sich die Ukraine und die Russische Föderation einigen. einigen. Beide Konfliktparteien müssen einer Mediation durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen zustimmen. Das ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit. Den Frieden sichern könnte man dann mit unabhängigen Militärbeobachtungsmissionen, die als erstes unabhängig von den heutigen Kriegsparteien, einfach bei Konflikten „reporten“, berichten, wer für Zwischenfälle verantwortlich ist. Eine friedenserzwingende Kompetenz durch die UNO gibt es zurzeit nicht – zum Glück. Denn der UNO-Sicherheitsrat u.a. mit der Vetomacht Russland oder die Generalversammlung könnten Entscheidungen gegen demokratische Staaten treffen.
Apropos Hamburg. Gibt es Heimweh nach der Elbmetropole, nach ihrem Mann und den Kontakt zu den Menschen in den Stadtteilen statt langwierige Ausschussdebatten oder Ihrem Boot auf der Bille? Ja. Auch immer mal wieder Sehnsucht nach meinem Mann, samt der Ironie, dass er übrigens extra wegen mir von Berlin nach Hamburg gezogen ist. Aber das bekommen wir hin, das funktioniert. Was ich wirklich vermisse und was umständehalber wegen der Dauersitzungen des Verteidigungsausschusses im vergangenen Jahr zu kurz gekommen, ist der direkte Kontakt zu den Menschen in meinem Wahlkreis 18, von Hamburg-Mitte und die Stadtteile Barmbek-Nord, Barmbek-Süd, Dulsberg, Hohenfelde und Uhlenhorst. Dass ich mein Wahlversprechen, die Sozialgesetzgebung im Bund zu verbessern und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, zurzeit nicht einlösen kann, das tut weh. Andererseits bekomme ich aber auch viel Rückhalt, indem mir viele Menschen Mut zusprechen für meine Ausschussarbeit in Berlin. Es geht ja nicht immer nur darum, die Interessen des eigenen Wahlkreises immer und überall durchzusetzen, der im übrigen auch extrem unterschiedliche Bedürfnisse hat: Das ist auch heute viel zu viel, also viel zu unterschiedlich, was wir hier haben. Also neben einer guten bürgerlichen Lebensqualität und 52.000 Unternehmen, die Hamburgs Wirtschaft am Laufen halten, gibt es im Wahlkreis Mitte seit Jahren die ärmste Bevölkerung und eine der höchsten Kinderarmutsquoten in Deutschland.
Sie sind Nachfolger des zurückgetretenen früheren Wahlkreis-Mitte-MdBs Johannes Kahrs, der Hamburg Millionen an Fördergeldern, u.a. 180 Millionen Euro fürs künftige Deutsche Hafenmuseum auf dem Grasbrook und 120 Millionen Euro für die „Peking“-Restaurierung. Wollen Sie auch ein Dagobert Kahrs für Hamburg werden? (lacht) Also, Johannes Kahrs ist mein Vorgänger und einer meiner besten Freunde. Aber politisch unterscheidet uns dann doch so manches. Ich finde, nicht zuletzt durch meine vielen Dienstreisen als Bundestagsabgeordneter, dass es uns erstens in Hamburg objektiv ganz gut geht und wir kein vorrangiges Geld-Problem haben. Da sind andere viel schlechter dran. Ich wäre schon froh, wenn Hamburg erst einmal die Gelder des Bundes, die ja bewilligt und abrufbar sind, überhaupt gegenfinanzieren und die Projekte umsetzen kann. Mit der Sanierung der Schaugewächshäuser in Planten un Blomen zum Beispiel ist die zuständige Senatorin Katharina Fegebank offenbar überfordert und die 20 Millionen Euro vom Bund für die St. Jacobi-Renovierung ruhen vor sich hin. Das muss Hamburg mit 50 Prozent alles gegenfinanzieren und hat doch erst einmal Jahre damit zu tun, die vom Bund finanzierten Projekte umzusetzen.
Deutschland und auch Hamburg diskutieren seit Silvester die kriminellen Böllerattacken auf Feuerwehr und Polizisten sowie eine fehlende Integration. Es gab, Stand 9. Januar 2023, in Berlin 38 Festnahmen, wovon zwei Drittel deutsche Staatsangehörige unter 21 Jahre waren, viele mit Migrationshintergrund. In Hamburg wurden 14 Personen wegen kriminellen Böller-Verdachts festgesetzt, die zwischen 16 und 37 Jahre alt waren und deutsche, polnische und iranische Staatsangehörigkeit haben. Ist es einfach wie bei 1. Mai-Randalierern politische Routine-Aufregung oder verbirgt sich ein echtes Integrationsthema dahinter? Ich will das in gar keinem Fall bagatellisieren. Straftäter müssen bei Angriffen auf Amtsträger mit der ganzen Härte unserer Gesetze bestraft werden – und zwar so schnell wie möglich, damit es auch abschreckende Wirkung entwickeln kann. Wir haben fehlende Akzeptanz gegenüber staatlichen Organen wie Feuerwehr und Polizei und das ist schlimm, aber es ist für mich kein Gewalt- und Integrationsthema mit Migranten. Diese Vereinfachungen sind oberflächlich und falsch.
Ihr Hamburger CDU-Bundestagskollege Christoph de Vries sprach bei den Böller-Attentätern sprachlich ironisch und in polizeilich-politischer Korrektheit von „Personen, Phänotypus: westasiatisch dunklerer Hauttyp“ und meinte damit auch, dass offizielle Sprachregelungen mit dafür sorgen würden, dass über das Scheitern von Integration in Deutschland nicht geredet werden dürfe und Straftäter mit Migrationshintergrund nicht konsequent genug abgeschoben würden. Stimmt das denn? Definitiv nein. Es darf doch nie einen Unterschied machen, aus welchem Land ein Täter kommt oder wie lange er schon hier in Deutschland ist. Eine Straftat ist eine Straftat ohne Ansehen der Person! Richtig und wichtig für eine bessere und erfolgreichere Integrationspolitik ist, dass wir Migranten der zweiten und dritten Generation und auch junge deutsche Staatsangehörige nicht zurücklassen, nicht im Stich lassen, weil sie schlecht oder kein Deutsch sprechen und keinen Schulabschluss haben. Das ist für mich jedoch kein Integrations- und Migrationsthema, sondern ein Bildungsthema für alle jüngeren Menschen, die keine abgeschlossene Ausbildung und keine Arbeit haben. So entstehen Parallelgesellschaften – unabhängig von der Herkunft!
Was ist die Lösung? Unter dem früheren Hamburger Ersten Bürgermeister Olaf Scholz gab es die Strategie, dass alle Schulen gleich ausgestattet sein müssten. Das fand ich damals schon fragwürdig und heute immer noch. Wir brauchen da, wo die meisten Kinder und Jugendlichen leben und das sind die ärmsten und die migrantisch geprägtesten Stadtteile, die wir in Hamburg haben, die besten Schulen mit den meisten Lehrern, die kleinsten Gruppen mit bestmöglicher Betreuung, weil dort schon die Sprachdefizite bestehen oder gegen Null gehen. Deshalb hat die frühere Familienministerin Manuela Schwesig ja die geförderten sprachorientierten Kitas eingeführt, von denen Hamburg ein Hauptnutznießer ist. Das muss endlich auch in den schulen passieren. Noch einmal für Herrn de Vries und andere: Es ist ein Bildungs- und Chancenthema und kein Migrationsthema oder Ausdruck gescheiterter Integration.
Viele Politiker, wie auch Christoph de Vries, der innenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, und auch Bürger:innen regen sich darüber auf, dass festgesetzte verdächtige Straftäter wie in Berlin und Hamburg, unabhängig von Schuldfragen kurz danach wieder auf freiem Fuß sind und sich auch noch mit ihrer Resilienz gegen den Staat brüsten. Das schürt doch Vorurteile und Aggression bei den Menschen. Brauchen wir schnellere Prozesse und Verurteilungen bei Straftaten gegen Polizei und Feuerwehr wie jetzt in Heilbronn, wo ein 30-Jähriger Raketen und Böller auf Mitbürger:innen, Polizei und Feuerwehr nach vier Tagen Untersuchungshaft und Prozess in dieser Woche zu neun Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurde. Ein Modell für Deutschland aus Heilbronn? Dass wir mit rechtsstaatlichen Prozessen zu schnelleren Urteilen kommen müssen, um als Staat glaubwürdig zu sein, ist unbestritten. Ich betone schneller, aber keine Schnellgerichte. Die hatten wir unter der Nazi-Herrschaft und haben sie heute leider auch in autokratischen und diktatorischen Staaten. Ich bin für den Rechtsstaat und dazu gehören handfeste Beweise für Urteile und deswegen bin ich froh, dass endlich auch die Forderung nach „Body Cams“, Körperkameras, für Feuerwehrleute jetzt offenbar umgesetzt wird. Übrigens haben wir seit 2017 mit dem „vorbeugenden Strafgesetzbuch bei Angriffen gegen Amtsträger“, die § 113-115 StGB, damals initiiert durch den Justizminister Heiko Maas, eine Grundlage für erhebliche Strafmaßverurteilungen. Da muss nichts nachgebessert, nur angewandt werden. Das kann auch Herr de Vries nachlesen.
Der fordert wie sein Hamburger CDU-Vorsitzender und CDU-MdB Christoph Ploß konsequentere Gesetzesanwendungen. Aber u.a. Christoph de Vries verbindet das immer mit den Themen Abschiebung und Migration. Und das hat oftmals rassistische Züge. Er ist wie bei den Silvester-Böller-Debatten charakterlich wie auch intellektuell überfordert. Man kann es treffend wie beim Philosophen Immanuel Kant zu Recht und Moral bei „vernünftigen Gesetzen und vernünftigen Strafen“ dem Sinn nach heißen: Wer sich mit vorsätzlicher Gewalt gegen Mitmenschen, Polizei, Feuerwehr oder Rettungskräften und -wagen hervortut, hat sich „zur Strafe qualifiziert“, wie es so schön heißt, und muss streng verurteilt werden. Da gibt es für mich, als Mensch, Politiker und Oberstleutnant keinen Zweifel. Aber, auch noch einmal: Die Migrations- und Integrationsdebatte hilft bei der Silvester-Böller-Debatte nicht weiter und ist nur politisches Schattenboxen für Schlagzeilen.
Wie verhält es sich denn nun bei dem Punkt des Zurückschickens von Straftätern in ihre Heimatländer? Das hat nichts mit Migrationshintergrund zu tun, verdammt noch mal! (redet sich in Rage) Wir haben zum Beispiel 74,8 Prozent Jugendliche mit Migrationshintergrund in Hamburg-Mitte. Machen wir für die dann ein eigenes Strafrecht auf? Nein danke, denn dafür sind wir in einem Rechtsstaat. Und jetzt lasse ich auch mal gerne den linken Sozialdemokraten heraushängen und frage: Schieben wir Menschen ab in Länder, von denen wir wissen, dass sie da getötet werden? Ist es uns das wert? Wollen wir das tun? Schieben wir Menschen nach Afghanistan ab, auch wenn wir wissen, dass sie dort erwartungsgemäß getötet werden? Ich sage: nein. In diesem Zusammenhang spricht Herr de Vries gerne von „genuin deutsch“ als Kriterium gegen andere, die „nicht genuin deutsch“, also u.a. Migranten seien. Das ist rassistisch und muss auch so benannt werden. Unser Grundgesetz ist da anders als Herr de Vries übrigens glasklar: Deutscher ist, der die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Punkt! Wer, woher kommt oder was er glaubt, spielt keine Rolle.
Das Jahr ist noch jung. Welche persönlichen und beruflichen Vorsätze haben Sie für 2023? Persönlich habe mich letztes Jahr durch zu viel Arbeit etwas „gehen lassen“ und habe u.a. durch meine vielen Auslandsreisen auch physische Grenzen zum Teil überschritten. Das möchte ich vernünftiger angehen und wieder mehr Sport machen.
Sie beschrieben sich selbst als linken Sozialdemokraten. Wo ist Ihre Heimat in der SPD-Fraktion? Ach herrje, die Zeiten der großen Flügel mit links und rechts sind vorbei. Als neuer Bundestagsabgeordneter bekam ich das Buch „Alleiner kannst Du gar nicht sein“, in dem Journalisten Abgeordnete in der vergangenen Wahlperiode im Bundestag begleitet hatten. Und das stimmt. Als Einzelperson ist es unmöglich, Dinge um- und durchzusetzen. Bei Fragen hilft natürlich erst einmal das eigene Büro, aber ansonsten ist der Bundestag schon ein Betrieb, der über einzelne hinweg geht.
In der SPD gibt es den eher konservativen, wirtschaftlich orientierten Seeheimer Kreis, die Parlamentarische Linke oder das 2021 neu gegründete Forum Demokratische Linke DL21. Wo sind Sie? Als einziger Hamburger SPD-MdB habe ich mich dem Seeheimer Kreis angeschlossen. Bei der Vielzahl der Themen, die man bewältigen muss, finde ich es extrem hilfreich und pragmatisch, dass man dort viele Hinweise, Ratschläge und auch Hilfestellungen bekommt, wie man zum Beispiel komplexe Gesetzestexte deutlich kompakt und schnell auch in den Wahlkreis transportieren kann.
Die Work-Life-Balance verbessern? Quatsch. Work-Life-Balance halte ich für Unsinn. Zuerst ist mal die Arbeit da, die erledigt werden muss. Und da fahre ich auch gerne unter dem Radar, also ohne Medienbegleitung, in die Ukraine oder nach Litauen zu Soldatinnen und Soldaten, weil ich mir vor Ort Eindrücke verschaffen und Meinungen authentisch anhören möchte. Dafür brauche ich keine Balance, keinen privaten Ausgleich. Es war nur 2022 einfach ein bisschen zu viel und der Raubbau an der eigenen Gesundheit ist nun mal kein kluges Ziel.
Und beruflich? Ich hoffe, dass wir, u.a. auch durch meine Arbeit, uns geopolitisch überlegen, welche Rolle wir Deutschen eigentlich auf der Welt spielen möchten? Muss es denn eine militärische Rolle sein? Da gibt es zum Beispiel bei uns in der SPD-Bundestagsfraktion anders als bei den Grünen einige Skeptiker. Auf die inhaltlichen Diskussionen darüber freue ich mich. Und ich bin sehr daran interessiert und trage gerne einen Teil dazu bei, dass die Bundesregierung 2023 eine neue nationale Sicherheitsstrategie vorlegt.
Das Gespräch führte Wolfgang Timpe