Trauerfeier. Am Karsamstag, 8. April 2023, verunglückte ein siebenjähriger Junge tödlich an der Kreuzung Brooktorkai/Osakaallee, als ihn an der Ampel ein Linienbus erfasste
Die HafenCity kommt leider nicht zur Ruhe. Nach dem tödlichen Unfall der Radfahrerin aus der HafenCity Ende Januar, als sie ein Lkw beim Rechtsabbiegen erfasste, hatte am Karsamstag ein Linienbus an der Kreuzung Brooktorkai/Osakaallee einen siebenjährigen Jungen auf dem Fußgängerüberweg der Ampel erfasst. Die Untersuchungen zum Unfallhergang sind bis Redaktionsschluss noch nicht abgeschlossen (wie auch im Fall der Radfahrerin).
Foto oben: Kreuzung Brooktorkai/Osakaallee, Dar-es-Salaam-Platz: Die HafenCity-Trauergemeinde hat Blumen niedergelegt und einen weißen Schatten-Engel für den siebenjährigen Jungen aufgestellt, der hier am Karsamstag tödlich verunglückt ist. © Catrin-Anja Eichinger
Ende April gedachte die HafenCity-Nachbarschaft dem am Karsamstag tödlich verunglückten siebenjährigen Jungen am Unglücksort, an der Kreuzung Brooktorkai/Osakaallee. Das Netzwerk HafenCity e. V. hatte die Gedenkfeier organisiert und stellte zum Erinnern einen weißen Schattenriss, einen Engel-Jungen, auf, zum Trost für die Familie und die Freunde sowie als Erinnerung für die Anwohner:innen.
Die Trauergemeinde legte Blumen nieder und sang gemeinsam das Lied „Das wünsch ich sehr“ – Melodie Detlev Jöcker und Text Kurt Rose (1984). Pastor Frank Engelbrecht von der Hauptkirche St. Katharinen hielt eine Trauerrede. Die Zeilen des Liedes trösteten alle Anwesenden, während ein stürmischer Regenguss zeitweise die Trauerrede wütend und befreiend zugleich untermalte: „Das wünsch ich sehr, / dass immer einer bei mir wär‘, / der lacht und spricht: / ,Fürchte dich nicht!‘“«
Für alle, die noch Anteil nehmen und auf ihre Weise Trost finden möchten, dokumentiert die HafenCity Zeitung zum eigenen Gedenken die Trauerrede von Pastor Frank Engelbrecht von St. Katharinen, der Kirche für die Anwohner:innen der HafenCity: „Ein Junge betritt an dieser Stelle die Straße. Die Ampel zeigt grün. Zusammen mit seiner Mutter und mit seiner Großmutter sind sie aus Stuttgart für eine Hamburg-Tour gekommen. Sie sind in der Speicherstadt und HafenCity unterwegs. Ob sie wohl am Störtebeker-Denkmal waren? Haben sie schon das Miniatur Wunderland gesehen? Oder kommen sie gerade aus dem Internationalen Maritimen Museum Hamburg? Dann ist der Junge mit seinen sieben Jahren womöglich noch ganz berauscht von der Fülle an Schiffen und alten Kanonen und Seeuniformen und mehr. Wir wissen nicht viel. Allerdings wissen wir, dass das Wetter bescheiden ist; dabei hat der Himmel am Tag zuvor, dem Karfreitag, noch in seinem schönsten Blau über der Stadt gestrahlt.
Sicherheitshalber hat der Junge seine Sonnenbrille aus blauem windschnittig geschwungenem Kunststoff dabei. Man weiß ja nie, ob sich das Wetter in Hamburg mit ein bisschen Wind nicht doch noch zum Besseren wendet. Oder findet er die Sonnenbrille auch einfach nur schick, cool? Jetzt liegt sie auf dem Asphalt. Ich habe das in einem der Videos gesehen, die von dem Tag berichten. Die Brille wird ihm vom Kopf geschleudert, als das Schreckliche geschieht: Ein Linienbus kreuzt den Ampelüberweg und erfasst das Kind – nach letzten Informationen fuhr auch er bei Grün, musste dann aber wegen eines Abbiegers auf der Kreuzung stoppen und fuhr weiter, als die Signale bereits umgesprungen sind. Alles geht unfassbar schnell. Sogar die Rettungskräfte sind sogleich zur Stelle und doch zu spät. Der Junge stirbt vor den Augen seiner Mutter und seiner Großmutter.
Und jetzt stehen wir hier und sind fassungslos, erschrocken, voller Trauer: um den Jungen, er war doch erst sieben Jahre alt, um die Mutter, die Eltern, die Großeltern, die Familie. Hatte er Geschwister? Die Freundinnen und Freunde zu Hause. In der Schule blieb sein Platz nach den Osterferien leer.
Und wir? Uns fehlen die Worte. Was sollen wir dazu sagen? Unter die Sprachlosigkeit mischt sich ein Seufzen: „Schon wieder!“ Denn das ist doch jetzt schon der dritte Unfall und der zweite mit tödlichem Ausgang in so kurzer Zeit in unserem Stadtteil. Wir sind traurig, fassungslos, ohne Worte, und da regt sich auch Zorn. Aber gegen wen? Gegen den Busfahrer? Das bringt das Kind nicht zurück, und so verrückt es in dieser Stunde des Gedenkens klingen mag: Auch er braucht Trost. Wie soll er seines Lebens je wieder froh werden?
Nochmals: Wir sind fassungslos, erschrocken, voller Trauer, uns fehlen die Worte. Aber einfach nur schweigen geht doch auch nicht. Wir müssen reden, damit wir nicht vor dem Schweigen kapitulieren, das der Tod in unser Leben einträgt. Wir können und wollen uns nicht damit abfinden, dass die Geschichte dieses Jungen nach sieben Jahren seines Lebens einfach sang- und klanglos verschwindet.
Darum sind wir heute hier und setzen ein Zeichen wider die Gleichgültigkeit und das Vergessen. Wir stellen diese Figur auf, die aussieht wie ein Schattenriss. Aber das ist kein schwarzer Schatten, wie wir ihn kennen, wenn Licht oder die Sonne auf unseren Körper trifft und wir dann einen Schatten werfen. Das ist ein weißer Schatten. Der sieht ein bisschen aus wie die Umrisse eines Engels.
Ein weißer Schatten: Der steht dafür, dass der Junge, der hier viel zu früh sein Leben verlor, in der Erinnerung all derer weiterlebt, die ihn kannten, vor allem in den Herzen derer, die ihn geliebt haben. Deren Liebe verschwindet nicht einfach mit dem Jungen, sondern lebt weiter, wenn auch ab jetzt immer mit Tränen gemischt. Wir haben ihn nicht gekannt, aber wir nehmen den Ball der Erinnerung auf und stellen uns damit auf die Seite all derer, die um ihn trauern und sich in Wirklichkeit ein Leben ohne ihn nicht vorstellen können und wollen.
Wir sind fassungslos, erschrocken, voller Trauer, zwischendurch auch zornig und halten dem Vergessen unser Gedenken entgegen: unser Gedenken an den Jungen, der hier sein Leben verlor – nochmals: viel zu früh! Dabei ringen wir um Worte und Gesten und darum, dass die Erinnerung an ihn und das, was hier geschah, nicht einfach wegfließt wie der Autoverkehr, der hier täglich auf vier bis sechs Spuren über diese Kreuzung geht.
Wenn wir in diesem Gedenken schweigen, dann nicht, weil wir der Sprachlosigkeit nachgeben, sondern weil zum Gedenken auch eine Stille gehört, in der wir nicht nur an sein Sterben erinnern, sondern auch an die sieben Jahre seines Lebens, das eigentlich dafür gedacht war, wenigstens noch zehnmal so lange zu dauern; vor allem erinnern wir nicht nur an den Unfall, sondern auch daran, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach die Neugier auf unsere schöne Stadt und das Abenteuer von Hafen und Speicherstadt und Elbe war, die ihn und seine Familie aus Stuttgart hierhergebracht haben, und daran, wie er sich schon darauf gefreut hat, nach Ostern nach Hause zurückzukehren und seiner Schulklasse in Stuttgart von der Seeräuberhafenstadt Hamburg zu erzählen.
So kommen wir zusammen: für die Erinnerung an das Leben, das er sieben Jahre lang hatte; für die Erinnerung an das Leben, das er an dieser Stelle verlor; und für die Erinnerung an das Leben, das als großes Versprechen vor ihm lag – bis zu diesem Tag, dem 8. April, dem Samstag vor Ostern, bis zu dem Moment, als er diese Straße betrat, weil die Ampel für ihn auf Grün umsprang, und als er loslief, wie Kinder eben loslaufen, wenn sie freie Bahn haben, und wie das ja eigentlich auch richtig ist, weil zum Kindsein doch gehört, dass wir spielen und uns unbeschwert bewegen. Und darum gehört zu unserer Erinnerung an sein Leben und an sein Streben auch, dass wir darüber nachdenken:
Wie bekommen wir das hin, dass hier so etwas nie wieder geschieht, dass ein Kind sein Leben im Straßenverkehr verliert? Wie bekommen wir das hin, dass wir unsere Stadt so bauen und organisieren, dass das nicht passiert, dass die Schwachen und die Kleinen in einem Moment der Unaufmerksamkeit unter die Räder kommen?
Das Licht dieser Erinnerung an das Leben des Siebenjährigen wirft der weiße Schatten auf diesen Tag, der Engel, den wir heute mitten in unserer Stadt an diesem Straßenkreuz aufstellen. Lasst uns eintreten in das Licht dieser Erinnerung und für einen Moment stille werden im Gedenken. In diese Stille hinein legen wir Blumen dazu als leuchtende Zeichen der Erinnerung an den Siebenjährigen und als lebendigen Widerstand gegen das Vergessen.“ Frank Engelbrecht