Autor Jan Ehlert in seiner 92. Kolumne »Literatur zur Lage« über gesellschaftliche Entwicklungen und queere Wirklichkeiten
Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Am Morgen nach dem ersten gemeinsamen Treffen taucht Matilda plötzlich am Bahnhof auf, schließt sich der weiterreisenden Hannah und ihren Freunden einfach an, lässt sie nicht mehr los. Und ihre Beharrlichkeit wird belohnt: Hannah und Matilda werden ein Paar. Neun Jahre lang leben die beiden zusammen.
Foto oben: Die Regenbogen-Fahne wird während der Pride Week am Hamburger Rathaus gehisst. Und der Senat gibt zum Start jedes Jahr einen großen Empfang. Im Rahmen der Pride Week findet auch der CSD statt.© picture alliance/dpa | David Hammersen
Miku Sophie Kühmel erzählt in ihrem gerade erschienenen Roman „Hannah“ die reale Liebesgeschichte zwischen der Künstlerin Hannah Höch und der Schriftstellerin Til Brugman. Sie nimmt uns mit in die Salons der damaligen Zeit, der 1920er-Jahre, bei Kurt Schwitters oder Piet Mondrian. Dass hier zwei Frauen als Paar auftreten wurde zuerst nicht weiter hinterfragt. Doch mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus nehmen auch die Anfeindungen gegen die beiden weiter zu. So sehr, dass am Ende auch ihre Liebe daran zerbricht: 1935 trennen sich Hannah und Til.
»Seit 2020 hat sich die Zahl der queerfeindlichen Straftaten mehr als verdoppelt.«
So offen wie die beiden Frauen ihre Liebe lebten, trauten es sich nur wenige. Noch weit über die 30er Jahre hinaus mussten homosexuelle Paare sich verstecken. Davon erzählen eindrücklich Autoren wie James Baldwin in „Giovannis Zimmer“ über eine schwule Liebe in den 1950ern, Douglas Stuart in „Young Mungo“, seiner Geschichte von zwei Jungen im schottischen Arbeitermilieu der 1980er oder noch 1993 Jim Grimsley in seinem Roman „Das Leben zwischen den Sternen“. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die gesellschaftliche Akzeptanz zugenommen und erst seit wenigen Jahren sind gleichgeschlechtliche Paare auch rechtlich so gut wie gleichgestellt. Den Anfang machte Hamburg mit der sogenannten „Hamburger Ehe“ im Jahr 1999.

Und doch ist das Motto des diesjährigen CSD, des Christopher Street Day, der noch bis 3. August in Hamburg im Rahmen der „Pride week“ stattfindet, noch immer „Queere Menschen schützen“. Er ist in diesem Jahr so wichtig wie lange nicht mehr: Denn die Gewalt gegen Homosexuelle hat in den vergangenen Jahren wieder bedrohlich zugenommen, seit 2020 hat sich die Zahl der queerfeindlichen Straftaten mehr als verdoppelt. Die Angst, die vor fast 100 Jahren Hannah und Til zunehmend das Leben schwer machte, überschattet auch heute wieder gleichgeschlechtliche Beziehungen.
Der Buchmarkt ist zum Glück eine laute Stimme gegen die Homophobie: Bücher wie jene von Alice Osman, deren „Heartstopper“-Serie erfolgreich verfilmt wurde oder von Ocean Vuong, der am 16. September in Hamburg seinen Roman „Der Kaiser der Freude“ über einen orientierungslosen queeren Teenager im heutigen Amerika vorstellen wird, sorgen dafür, dass queere Geschichten weiter gehört und gelesen werden – damit sich homosexuelle Liebende nie wieder verstecken müssen. Jan Ehlert
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Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine Kolumne »Literatur zur Lage«.