Kolumnist Jan Ehlert erörtert in der November-Ausgabe der HafenCity Zeitung in seiner „Literatur zur Lage“, #95, u.a. den Roman „Herscht 07769“ des Literaturnobelpreisträgers Laszlo Krasznahorkai

Eigentlich scheint der „Boss“ ein netter Mensch zu sein. Er entfernt die Schmierereien auf den örtlichen Denkmälern, für die Arbeitslosen vor Ilonas Grillhäusl hat er immer ein aufmunterndes Wort und für den jungen Florian, den er aus dem Waisenhaus geholt hat, viele wohlmeinende, wenn auch sehr maskuline Ratschläge. Doch es sind Ratschläge, die man besser nicht ablehnt: „fordere nicht das Schicksal gegen dich heraus, denn hier sind fast alle Nazis, selbst die, die nichts davon wissen, dagegen kann man nichts tun“, warnt ihn eine Einwohnerin des Ortes. 
Foto oben: Der ungarische Literaturnobelpreisträger Laszlo Krasznahorkai: In „Bachs Kunst fehlte einfach das BÖSE, Bach hatte sie geschaffen, und es gab nichts, das sie zum Einsturz bringen konnte“.© picture alliance / NEUMAYR / APA / picturedesk.com
Der ungarische Autor Laszlo Krasznahorkai, der gerade mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, taucht in seinem Roman „Herscht 07769“ mitten hinein in die düstere deutsche Gegenwart. Das Buch spielt in Thüringen, in einem fiktiven Dorf, das aber viele Entsprechungen vor allem, aber nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern hat, Orte, in denen längst alles von den Nazis bestimmt und organisiert wird: die Feste, die Spielplätze, aber auch die Schlägereien und Einschüchterungen.
Orte, in denen längst alles von den Nazis bestimmt und organisiert wird: die Feste, die Spielplätze, aber auch die Schlägereien und Einschüchterungen.Ein fiktiver Ort in Thüringen in Laszlo Krasznahorkais »Herscht 07769«
Auch Florian, der Protagonist, erkennt lange nicht, wem er eigentlich hinterherläuft. Krasznahorkai nimmt uns mit in seine Gedankenwelt, geprägt von Verschwörungstheorien, Dankbarkeit und allgemeiner Verunsicherung. In einem einzigen, langen Satz beschreibt er so die Ängste, die viele umtreiben und die Mechanismen, mit denen rechte Gruppen diese Verunsicherten für ihren Fremdenhass empfänglich machen. Ja, kaum einer hat so tief und so analytisch in die schwankende deutsche Seele geguckt wie der Ungar Krasznahorkai. Unter den deutschen Autoren kann dies vielleicht noch Lukas Rietzschel, der mit seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ bereits 2018 die Radikalisierung junger Menschen in einem sächsischen Dorf erschreckend nachvollziehbar beschrieb.
Es sind Romane wie diese, die uns helfen können, die zugrunde liegenden Ängste zu verstehen, die Menschen dazu bringen, ihr Kreuz bei rechten Parteien zu setzen. Die Gedanken dieser Bücher ernst zu nehmen, könnte mehr bewirken, als unselige „Stadtbild“-Diskussionen anzustoßen, um so vielleicht Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen. Denn nicht zuletzt ist es in den düsteren Welten von Kraszanhorkai immer die Kultur, die Hoffnung gibt, ein Buch, ein Film – oder, wie im Fall des thüringischen Dorfes von Florian Herscht, die Musik: „in Johann Sebastian Bach gab es NICHTS BÖSES, na, und das konnte man der unvermeidlich scheinenden Gefahr entgegensetzen, Bachs Kunst fehlte einfach das BÖSE, Bach hatte sie geschaffen, und es gab nichts, das sie zum Einsturz bringen konnte“. Jan Ehlert
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Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine Kolumne »Literatur zur Lage«. © Privat
 
								 
				 
															


