Exklusiv-Gespräch. HCZ-Autorin Dagmar Leischow sprach mit Tobias Kratzer, neuer Intendant der Hamburgischen Staatsoper, über neue Ziele und neues Publikum
Das Büro von Tobias Kratzer liegt im achten Stock. Ob Kunsthalle, Rathaus oder Elbphilharmonie: Der neue Intendant der Hamburgischen Staatsoper, unlängst gekürt zum „Regisseur des Jahres“, hat alles im Blick. Angetreten ist der 45-Jährige, der zum ersten Mal ein Haus leitet, mit ganz konkreten Plänen. Er möchte mehr Menschen in die Oper holen, anlocken will sie der gebürtige Landshuter vor allem mit einem zeitgemäßen Programm. Und als jüngst der Siegerentwurf des neuen Opernhauses auf dem Baakenhöft in der HafenCity vorgestellt wurde, kommentierte er den Siegerentwurf locker vom Hocker, à la Kratzer halt: „Ein Gebäude, das sich in vollen 360 Grad zur Stadt hin öffnet; ein Park, der die Oper in buchstäblich jeder Windung seiner Wege mit der Welt und die Welt mit der Oper konfrontiert; und eine Silhouette, die in ihrer Leichtigkeit einfach gute Laune macht – der Entwurf der Bjarke Ingels Group verkörpert in seiner architektonischen Form all das, wofür wir an der Hamburgischen Staatsoper auch in unserer künstlerischen Programmatik stehen! Kaum 100 Tage im Amt, fühle ich mich nicht nur angekommen, sondern reich beschenkt. Wir freuen uns!“ (Siehe auch Bericht Seite 22) HCZ-Autorin Dagmar Leischow sprach mit dem Opern-Erneuerer über seine Ziele, der Hamburgischen Staatsoper neues Leben einzuhauchen.
Foto oben: Tobias Kratzer, neuer Intendant der Hamburgischen Staatsoper: „Es soll wieder das spannendste Opernhaus Deutschlands werden – das ist mein Anspruch.“ © Robert Haas
Herr Kratzer, Sie haben Ihren Einstand an der Hamburgischen Staatsoper mit Schumanns „Das Paradies und die Peri“ gegeben. Warum haben Sie sich für dieses Oratorium entschieden? Weil ich es für ein Stück von großer Schönheit und hoher theatraler Qualität halte. Ich glaube, dieses komprimierte Werk kann sich szenisch erst richtig entfalten. Es basiert sehr stark auf einem Ensemble, also auf tatsächlich gleichrangigen Rollen. Vor allem beschäftigt es sich aber mit der Suche nach Empathie – und es wirft die Frage auf, wie Krisen in der Kunst verarbeitet werden können.

Vom Klimawandel bis zu Kriegen wird in Ihrer Inszenierung Aktuelles thematisiert. Muss Kunst politisch sein? Kunst muss gar nichts. Ich bin im Ästhetischen immer dagegen, normative Regeln aufzustellen. Zugleich ist Theater aber eine öffentliche Kunst, alleine deshalb ist jede Theateraufführung in sich auch politisch. Selbst wenn ich versuche, mich von Tagespolitik fernzuhalten und mich auf einen zum Beispiel emotionalen oder psychologischen Aspekt zu konzentrieren, kann das ein politisches Statement sein. Es muss nicht jede Aufführung die gegenwärtige Politik so direkt adressieren wie „Das Paradies und die Peri“. Manche künftigen Abende werden den Zumutungen der Gegenwart auch durch Humor, Poesie oder Anarchie begegnen.
Dennoch fokussiert sich Ihre nächste Premiere, die Uraufführung von Olga Neuwirths und Elfried Jelineks „Monster’s Paradise“ im Februar 2026, wieder auf Politik. „Monster’s Paradise“ ist ein Stück, das auf populistische Herrscher unserer Zeit eingeht. Trump ist ein Aufhänger, aber sicher nicht der einzige. Es geht darum, wie man gegen irrationale Macht überhaupt noch ankommt. Denn das Credo „Die Ratio triumphiert letzten Endes über Irrationalität“, das man für das Ergebnis der Aufklärung hielt, gilt in unserer Welt nicht mehr unbedingt. Wenn man diesen Aberwitz einer Herrschaft wie etwa dem Trumpismus benennt und mit ähnlichem Aberwitz kontert, ist das vielleicht effektiver als jeder Leitartikel.
»Wir pflegen eine sehr offene Willkommenskultur und laden zum Beispiel Jugendliche kostenlos zu Generalproben ein. Wir wollen zeigen: Ihr könnt hierherkommen. Das ist ein toller Ort für die gesamte Stadtgesellschaft. «
Tobias Kratzer
Vor allem Ihre Wagner-Regiearbeiten haben Sie bekannt gemacht. Wird es in der nächsten Saison eine Wagner-Inszenierung von Ihnen geben? Nein. Nichts gegen diesen Komponisten – auf ihn gründet sich sozusagen mein internationales Renommee –, aber ich selbst werde bei Wagner in Hamburg erst anderen Regisseurinnen und Regisseuren den Vortritt lassen.
2019 haben Sie für Ihre „Tannhäuser“-Inszenierung in Bayreuth mit dem Dirigenten Valery Gergiev, der Putin nahesteht, kooperiert. Würden Sie ihn heute in Hamburg engagieren? Auf keinen Fall. Gergievs politischer Aktivismus ist für mich ein absolutes Ausschlusskriterium. Wer sich auf seine Weise mit einem kriegstreiberischen Regime gemeinmacht, hat in der Hamburgischen Staatsoper nichts zu suchen. Grundsätzlich pflegen wir hier aber keine Cancel-Culture. Es geht immer um den spezifischen Einzelfall.
In den vergangenen Jahren konnte sich die Hamburgische Staatsoper nicht mit den Häusern in Frankfurt oder Berlin messen. Was bedeutet das für Sie? Die Hamburgische Staatsoper hat in ihrer Geschichte mit fast jedem Intendanzwechsel einen großen Richtungswechsel vorgenommen. Dadurch hat sie kein durchlaufendes Narrativ entwickelt. Natürlich hatte ich das Gefühl, die internationale Wahrnehmung des Hauses entspricht nicht immer seiner Leistungsfähigkeit und dem Ruf, den es in seiner großen Vergangenheit hatte. Es soll wieder das spannendste Opernhaus Deutschlands werden – das ist mein Anspruch. Für mich gilt: Wenn ich bei einem Marathon nicht das Ziel habe, eine Medaille zu bekommen, warum soll ich dann antreten?

Sie wollen die Rapperin Shirin David, die als Kinderdarstellerin in einigen Aufführungen der Hamburgischen Staatsoper mitgewirkt hat, für eine Zusammenarbeit gewinnen. Laufen die Verhandlungen bereits? Wir waren schon mit ihrem Management in Kontakt und haben sie für eine Produktion in der kommenden Saison angefragt. Aus zeitlichen Gründen wird sich das wahrscheinlich nicht ausgehen. Wir bleiben aber dran. Ich hoffe, dass wir Shirin David irgendwann ein großes Comeback auf unserer Bühne verschaffen können.
Ihr Generalmusikdirektor Omer Meir Wellber ist mit einigen Musiker:innen im Schmidts Tivoli auf dem Kiez aufgetreten – mit Martin Lingnau, dem künstlerischen Leiter der Schmidt-Bühnen. Wie schätzen Sie so einen Abend ein? Ich finde es ganz wichtig, neue Wege zu gehen. Mit dem Projekt „opera mobile“ besuchen wir mit den Alsterspatzen Schulen. Wir verstehen uns als Player in der Stadt. Genauso möchte ich aber ein breiteres Publikum zu uns ins Haus holen. Wir pflegen eine sehr offene Willkommenskultur und laden zum Beispiel Jugendliche kostenlos zu Generalproben ein. Wir wollen zeigen: Ihr könnt hierherkommen. Das ist ein toller Ort für die gesamte Stadtgesellschaft.
Gilt bei Ihnen nicht Dresscode Abendgarderobe – wie in der Mailänder Scala? Als dieses Posting öffentlich wurde, habe ich sofort zu meinem Social-Media-Team gesagt: „Wir machen ein Gegenposting: Come as you are.“ Man kann so kommen, wie man sich wohlfühlt. Das heißt nicht, dass man bewusst schlunzig kommen soll. Die Oper ist doch auch ein schöner Ort, um den alten Hochzeitsanzug noch mal auszuführen. Aber man kann auch einfach nach der Arbeit oder dem Shopping vorbeischauen. Kleidungstechnisch ist also alles möglich.
Auf dem Baakenhöft in der HafenCity soll eine neue Oper gebaut werden, finanziert vom Unternehmer Klaus-Michael Kühne. Dazu kämen rund 250 Millionen Steuergelder. Das ist nicht allen Hamburger:innen recht. Speziell diese Kritik kann ich nicht verstehen, weil in die Sanierung dieses Hauses sowie die Erstellung eines Ausweichquartiers deutlich mehr Steuergelder fließen müssten.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die NS-Vergangenheit der Firma Kühne + Nagel. Wie stehen Sie dazu? Das kann ich nachvollziehen. Ich finde auch, die Aufgabe eines Unternehmens wäre es, diese Zeit aufzuarbeiten. Ob sich aus der Verweigerung ableiten lässt, das Geschenk abzulehnen, ist eine komplexe Frage. Meine Antwort wäre: nein. Wenn es einen Ort gibt, an dem man die Möglichkeit hat, sich mit den Verstrickungen der Vergangenheit auf produktive Weise auseinanderzusetzen, dann ist das die Kunst: im Sprechtheater wie auch in der Oper.
Interview: Dagmar Leischow
Info: Das Oratorium „Das Paradies und die Peri“ läuft in der Hamburgischen Staatsoper. Karten und weitere Informationen unter: www.die-hamburgische-staatsoper.de



