Mal laut, mal leise kann die Singer-Song-writerin Ina Müller. Jetzt erscheint ihr neues Album „55“ und im Januar 2022 tritt sie im Großen Saal der Elbphilharmonie auf. Eine Nahaufnahme
Ein grauer Oktobertag. Ina Müller ist in einen dicken Mantel eingemummelt, als sie das Foyer des Hotels „The George“ nahe der Außenalster betritt. Was sofort auffällt: Die 55-Jährige trägt ihre Lockenpracht heute offen, statt sie zum Pferdeschwanz zu bändigen. Als sie mit dieser Frisur zum ersten Mal in ihrer Sendung „Inas Nacht“ auftrat, wurde ihr Look in den sozialen Medien heiß diskutiert. Ihre Fans waren sich einig: Sie sah toll aus.
Foto oben: Neuer knalliger Look zum neuen Album „55“ und ernüchternde Pandemie-Beziehungserkenntnisse: „Normalerweise hält doch der geregelte Alltag eine Beziehung deshalb am Laufen, weil man sich kaum sieht.“ © Sandra Ludewig
Doch man sollte die Sängerin und Moderatorin nicht allein auf Äußerlichkeiten reduzieren. Ihre Alben tummeln sich für gewöhnlich in den Top Five der Charts, im Fernsehen klönt und singt sie in ihrer Show mit Prominenten. Bei ihren Auftritten wirkt sie quirlig, heute geht sie die Dinge etwas entspannter an. Ohne Hast schlendert sie zu einem großen Raum mit zwei Sitzecken. Fürs Interview setzen wir uns ans Fenster, natürlich mit ausreichend Abstand.
Ihr Wunschgast ist Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Bei ihr wäre ich mutig, aber nicht frech.“
Trotz Social Distancing ist es kein Problem, innerhalb von Sekunden mit der Sängerin und Moderatorin ins Plaudern zu kommen. Ihre Offenheit ist herzlich, ihre Sprache direkt, sie hält stets Blickkontakt – egal, ob sie über ihr Album „55“ oder ihre Sendung redet, in der sie wahnsinnig gerne mal Angela Merkel zu Gast hätte: „Bei ihr wäre ich mutig, aber nicht frech. Ich würde Angela Merkel respektvoll begegnen, denn ich habe große Achtung vor dem, was sie als Bundeskanzlerin geleistet hat.“
Für Ina Müller selbst wäre es indes keine Option, in die Politik zu gehen und vielleicht sogar an der Spitze eines Landes zu stehen: „Mir fehlt die nötige Bildung und Intelligenz, um Bundeskanzlerin zu werden. Außerdem wäre ich viel zu aufbrausend, zu emotional.“ Wenn ihr etwas nicht passen würde, würde sie beleidigt aus dem Bundestag stürmen. Davon ist sie überzeugt.
Aus sich herauszugehen, das scheint ihr im Blut zu liegen. Ina Müller gilt als laut, hemmungslos und trinkfest. Dabei hat sie durchaus eine zerbrechliche Seite. Fast zehn Jahre litt sie an immer heftigeren Panikattacken: „Es gab eine Phase, in der ich nur im Liegen Linderung fand. Wenn ich nichts tat, konnte ich ruhig atmen und meine Panikattacke ging wieder weg.“ Richtig in den Griff kriegte sie ihre Krankheit erst mit einer Verhaltenstherapie: „Mir wurde bewusst, dass ich überfordert war und dem ewigen Druck einfach nicht standhielt.“
In der Konsequenz schaltete sie einen Gang runter. Sie tourte weniger, sie achtete mehr auf sich und das, was wirklich in ihrem Inneren vorging. Ihre leise, nachdenkliche Seite stellt sie nun zeitweilig in ihren neuen Songs zur Schau, die Musik komponierte sie größtenteils mit ihrem Partner, dem Sänger Johannes Oerding. In der Ballade „So hätt’ ich also sein soll’n“ steckt eine ordentliche Portion Wehmut, wenn Ina Müller reflektiert, warum sie nicht die Richtige für einen Verflossenen war. Das Lied „Fast hält länger als fest“ klingt mit Zeilen wie „Und es war fast perfekt. Fast wär’ mein Herz daran verreckt“ zutiefst melancholisch. Mal lotet Ina Müller ihre Traurigkeit aus, mal das, was in dieser Welt im Argen liegt. „Einer sprengt was in die Luft, weil ihn meine Art zu leben so sehr stört“, singt sie in der eingängigen Uptempo-Popnummer „Ich halt die Luft an“.
Mit ihren Süchten beschäftigt sich die Wahl-Hamburgerin, die im niedersächsischen Köhlen geboren wurde, ebenfalls. Dabei setzt sie auf ein altbewährtes Stilmittel: (Selbst-)Ironie. „Das Nutellaglas ist leer, hab’n wir keine Kekse mehr?“ fragt sie in dem Titel „Wie Heroin“ und bekennt sich zu ihrer Zuckersucht. Auf Schokolade verzichten? Eher nicht realistisch für die Tochter eines Landwirts: „Ich habe einen starken Willen, mit etwas anzufangen. Mit etwas aufzuhören fällt mir dagegen schwer.“
Die neuen leisen Songs komponierte sie mit ihrem Partner, dem Sänger Johannes Oerding.
Deshalb hat sie es bis heute nicht geschafft, endgültig ins Lager der Nichtraucher zu wechseln. Trotz etlicher Anläufe: „Allein in der Zeit, in der ich das Lied ,Rauchen‘ schrieb, habe ich achtmal das Rauchen aufgegeben und wieder angefangen.“ Wenigstens qualmt sie heute deutlich weniger als früher, vielleicht zwei, drei Zigaretten pro Tag, manchmal eine Woche gar nicht. Sie bezeichnet sich als Genussraucherin: „Für mich ist es ein schöner Moment, ein Glas Wein zu trinken und dazu eine Zigarette zu rauchen.“
Besonders gern macht sie das logischerweise mit Johannes Oerding. Wie haben die beiden den ersten Lockdown verbracht? „In der Anfangszeit waren wir echt viel zusammen, nach und nach war dann irgendwie jeder fast nur noch in seiner Wohnung“, erinnert sich Ina Müller. „Lustigerweise haben wir viel telefoniert.“ Während dieser Zeit hat sie zahlreiche Podcasts gehört, die sich mit der Frage beschäftigten: Wie geht der Einzelne mit dem Lockdown um? Da fiel oft der Satz: „Stell dir vor, wie schrecklich es wäre, du hättest jetzt keine Kinder, keinen Mann …“ Diese Aussage stieß bei der Künstlerin auf Unverständnis: „In solchen Momenten dachte ich bloß: Wäre es nicht viel schlimmer, mit einem Partner und zwei Kindern, die nicht zur Schule gehen können, die ganze Zeit zu Hause zu hocken? Normalerweise hält doch der geregelte Alltag eine Beziehung deshalb am Laufen, weil man sich kaum sieht.“ Dagmar Leischow
INFO I:
Ina Müller gastiert So., 2. Januar 2022, um 16 und 20 Uhr im Großen Saal der Elbphilharmonie. Sa., 5. November 2022, tritt sie um 20 Uhr in der Barclaycard Arena auf.
INFO II:
Ina Müllers neues Album „55“ ist seit 20. November 2020 im Handel. 12 Titel, 44 Min.; Columbia Deutschland; als CD (19,95 €),
MP3-Download (10,71 €) oder als Vinyl (44,99 €) erhältlich.