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Fotografie des Schriftstellers Wolfgang Borchert in der „Borchert-Box“ in der Dauerausstellung der Universitätsbibliothek Hamburg, die den Nachlass des Autors und sein Arbeitszimmer öffentlich zugänglich macht. © picture alliance/dpa | Georg Wendt
Fantasie von übermorgen

HCZ-Autor Jan Ehlert schreibt in seiner Kolumne #44 „Literatur zur Lage“ über Wolfgang Borchert und Hamburg und seinen 100. Geburtstag

Die Uraufführung wurde mit Spannung erwartet: Ein Stück eines jungen Autors sollte am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen gezeigt werden: „Draußen vor der Tür”. Der Urheber war ein Sohn der Stadt: Wolfgang Borchert, geboren in Eppendorf. Doch die Premiere geriet zur Nebensache: Einen Tag vorher, so teilte das Regieteam dem fassungslosen Publikum mit, war Borchert gestorben. Er wurde 26 Jahre alt. 
Foto oben: Fotografie des Schriftstellers Wolfgang Borchert in der „Borchert-Box“ in der Dauerausstellung der Universitätsbibliothek Hamburg, die den Nachlass des Autors und sein Arbeitszimmer öffentlich zugänglich macht. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Heute zählt Borchert zu den berühmtesten literarischen Söhnen unserer Stadt. Aus Anlass seines 100. Geburtstages fanden im Mai zahlreiche Lesungen, Stadtführungen und Konzerte statt. Denn Borchert liebte sein Hamburg: „Hamburg, das ist mehr als Schiffssirenen, kreischende Kräne, Flüche und Tanzmusik – oh, das ist unendlich viel mehr”, schrieb er über unsere Stadt. Mehr noch als seine Hamburg-Liebe ist es aber seine Mahnung, die er – ein spätes Opfer des Krieges – uns Nachgeborenen hinterließ: „Du, Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins“, schrieb er in seinem berühmten Anti-Kriegs-Appell: „Sag NEIN!“ 

Jan Ehlert: Nur weil ein Künstler eine Meinung vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen, heißt das also nicht, dass er kein guter Künstler ist. Und Irren ist bekanntlich menschlich, das wissen wir schon seit Cicero. © Privat
Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine Kolumne „Literatur zur Lage“. © Privat

Es waren oft Dichterinnen und Dichter, die sich deutlich gegen den Krieg aussprachen. So wie ein anderer Hamburger, 200 Jahre vor Borchert. „Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre? / Die könnten mich nicht freun! / ’s ist leider Krieg – und ich begehre, / Nicht schuld daran zu sein!”, klagte der Wandsbeker Pastorensohn Matthias Claudius. Auch Erich Kästner rief zur tätigen Verweigerung auf: „Und als der nächste Krieg begann / da sagten die Frauen: Nein / und schlossen Bruder, Sohn und Mann / fest in der Wohnung ein.” Doch Kästner ahnte wohl schon, dass es dauern würde, bis sich sein Gedicht erfüllen würde. „Fantasie von übermorgen” ist es übertitelt.

Nun hat der nächste Krieg zum Glück nicht begonnen, zumindest nicht bei uns. Aber schreiben nicht doch schon wieder viele Menschen Hass- statt Liebeslieder? Und ist die Gier nach Gold, Land und Kron nicht auch schon wieder zu spüren? Es liegt an uns, zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben wollen. 

Darum: Wenn wir aufgefordert werden, gegen unsere Werte zu handeln, egal ob in Hassreden, Internetforen oder im Freundeskreis, dann gibt es nur eins: Sag NEIN! Das mag schwer fallen, aber auch hier können wir uns auf Wolfgang Borchert stützen. „Versuch es”, heißt eines seiner schönsten Gedichte: „Stell dich mitten in das Feuer, liebe dieses Ungeheuer, in des Herzens rotem Wein – und versuche gut zu sein. Jan Ehlert

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