»Ich habe eine helle Seite der Erotik!«

HCZ-Gespräch. Die Hauptpastorin Dr. Ulrike Murmann leitet seit 20 Jahren St. Katharinen. Die Pröpstin des Kirchenkreises Hamburg-Ost über Glaube, Haltung und die HafenCity

Mächtig schiebt sich der Bug mit großem Hamburg-Wappen des Hapag-Lloyd-Ozeanriesen durch die Atlantik­wellen kurz vor New York – stolz fixiert der Werftarbeiter auf dem Trockendock-Gerüst von Blohm+Voss  neben riesiger Schiffsschraube die Betrachter:innen. Behütet von den weit geschwungenen, weißen gotischen Deckenkuppelbögen, verbindet sich die Aura der beiden Bilder der zwei Hamburger Fotografen Heinz-Joachim Hettchen („Auf Fahrt“) und Thomas Hampel („Im Dock“) mit der meditativen Ruhe und majestätischen Höhe der Wandelhalle im Seitenschiff der Hauptkirche St. Katharinen zu einer einzigartigen maritimen Kunstatmosphäre der Hafen- und Seefahrerkirche.
Foto oben: Hauptpastorin Dr. Ulrike Murmann von St. Katharinen auf den Magellan-Terrassen, einem ihrer Lieblingsplätze in der HafenCity: „Ich schlendere gerne durch die HafenCity und halte mich vorzugsweise an Plätzen und am Wasser auf. Insgesamt hat die HafenCity jedoch deutlich zu wenig Grün, und mir fehlt ein wenig die Mitte, ein Zentrum, wo sich irgendwann alle treffen.“ © Catrin-Anja Eichinger

Es sind Ausstellungen wie „See und Hafen“ mit ihren überdimensionalen Fotoleinwänden in den Gängen und unter den großzügigen hellen Kirchenfestern aus dem Sommer 2022, die die lebendige künstlerische Stadtteilkultur und imponierende Seehafengeschichte Hamburgs in die DNA von St. Katharinen wieder neu einbrennt und wahrnehmbar macht. Es ist nicht nur ein Gotteshaus und Seelsorgeort, sondern in gewachsener Weise eine Begegnungsstätte der Menschen aus dem Quartier von Altstadt und der neuen Mitte Hamburgs, der Innenstadt und der HafenCity. 

Kunst-, Begegnungs- und Erinnerungsraum Hauptkirche St. Katharinen: Die Ausstellung „See und Hafen“ präsentierte im Sommer 2022 die maritimen Arbeiten der vier Hamburger Fotografen Thomas Hampel, Heinz-Joachim Hettchen, Manfred Stempels (†) und Manfred Wigger. Die vier grundieren die Themen Schifffahrt, Weltmeere, Fahren, Hafenarbeit und Dock­leben mit großformatigen Fotoleinwänden im gesamten Kirchenschiff. Hier im Vordergrund des nordöstlichen Wandelgangs des Kirchenschiffs das Hettchen-Thema „Auf Fahrt“ und darunter die Hampel-Arbeit „Im Dock“. Eine Fotohymne an die Seefahrer- und Hafenkirche St. Katharinen, die mit der HafenCity ihre frühere DNA wiederentdeckt hat. © Wolfgang Timpe

Seit 20 Jahren leitet die Hauptpastorin Dr. Ulrike Murmann die Hauptkirche St. Katharinen und hat sie nicht nur mit persönlich in der Hamburger Gesellschaft und Unternehmerszene akquirierten Millionenspenden von 2004 bis 2014 wieder restaurieren lassen, sondern mit ihrem Pastoren- und Pastorinnenteam und den Gemeindehelfer:innen auch wieder neu zu einer Quartierskirche entwickelt. St. Katharinen ist ein Begegnungs- und Debattenort, der den Menschen vor Ort Orientierung und Mitgestaltungsmöglichkeiten bietet – für ganz Klein und ganz Groß. 

Lesen Sie mal, warum Pastorin Murmann eine dunkle und eine helle Seite ihrer Persönlichkeit entdeckt hat und warum sich St. Katharinen inzwischen wieder als lebendige Mitte der Quartiere begreift. Sie unterstützt die Bewohner:innen und Gemeindemitglieder dabei, in politischen und gesellschaftlichen Prozessen des Stadtteils und ganz Hamburg mitzuwirken. Murmann: „Mein seelsorgerischer Impuls sorgt dafür, dass ich hinhöre und sehe, wo Menschen leiden, und prüfe, wie ich persönlich oder wir als Kirche und Gemeinde ihnen zur Seite stehen können.“ Das ganze Gespräch über Glaube, Demut, Erotik und die HafenCity: 

Frau Murmann, Sie sind schon seit 20 Jahren Hauptpastorin und waren zu Beginn und sind inzwischen wieder die einzige Frau in der Riege. Wie fühlen Sie sich heute als evangelische Theologin und weibliche Speerspitze in Hamburg? Ich fühl mich gut in und mit dieser Aufgabe und mache sehr gerne, was ich mache. Ich liebe meinen Beruf und die Möglichkeiten, die ich habe, für die evangelische Kirche öffentlich einzutreten. Die Kirche hat generell keine leichten Zeiten, doch ich habe ein inneres Zutrauen und eine optimistische Grundhaltung, mit der ich bisher alle Klippen ganz gut umschifft habe. 

Was ist neben Predigten und Seelsorge das Kerngeschäft der Hauptpastorin? Sie repräsentiert die Hauptkirche St. Katharinen nach außen und bespielt sie nach innen – zusammen mit unserem Team, unter anderem mit unserem Kantor, Chorleiter und Organisten sowie zwei weiteren Pastorinnen, einer Referentin, unserer Büroleiterin, unserer Fundraiserin, einer Hausdame und einem Küster. Wir machen im Team die Gemeindearbeit vor Ort. Zu uns gehört auch noch der Kreis der Ehrenamtlichen, die mit dafür sorgen, dass die Kirche offen gehalten wird und sich jede Besucherin und jeder Besucher gastfreundlich empfangen fühlt.

Hauptpastorin Dr. Ulrike Murmann: „St. Katharinen ist die Kirche am Hafen, die Kirche der Tuch­macher, Schiffbauer und Bierbrauer. Sie hat eine jahrhundertealte Tradition, war immer ganz eng mit den Menschen verbunden, die hier gelebt und gearbeitet haben. Und durch den Bau der HafenCity sind wir von der etwas leblosen randständigen Lage zwischen Willy-Brandt-Straße und Zollkanal in die neue Mitte Hamburgs gerückt.“ © Catrin-Anja Eichinger

Das ist schon ein Apparat, der gesteuert werden muss. Leidet nicht die inhaltliche Arbeit darunter? Definitiv nein. Wir sind mit allem, was wir tun, inhaltlich aktiv: mit Gottesdiensten, Trauungen, Taufen oder auch Beerdigungen. Das ist unser Kerngeschäft, wie Sie es vorhin nannten. Und wir feiern damit den Glauben, erzählen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen von Gott und führen sie zusammen. Glaubensfragen sind für mich Sinnfragen. Warum und wozu bin ich auf der Welt? Oder woher komme ich, und wohin führt mein Weg? Das alles sind elementare Lebensfragen und -themen, denen wir uns stellen und die wir diskutieren. Das ist absolut inhaltlich.

Ist der Glaube heute auch durch Social-Media-Nutzung nicht oftmals nur noch dem Mammon und der Eitelkeit gewidmet, ist aus Gott nicht längst ein Smartphone geworden? Richtig ist, dass Menschen, wie es jahrhundertelang Tradition war, immer weniger durch die Familie oder Institutionen an den Glauben und die Kirche herangeführt werden. Wir bezeichnen es als großen Traditionsabbruch, dass in vielen Familien nicht mehr gebetet oder gesungen wird und auch Gottesdienstbesuche spürbar zurückgegangen sind. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten wir einen kontinuierlichen Rückgang an Mitgliedern. Das ist natürlich sehr bedauerlich, aber es hat auch etwas Gutes: Heute geht man nicht in die Kirche, weil andere es von einem erwarten oder es eben Tradition ist, sondern jeder und jede entscheidet sich frei und ungezwungen, ob sie dazugehören möchte oder nicht.

Ist das gesellschaftlich eine Leerstelle? Das sehe ich nicht so. Früher gab es einen hohen sozialen Druck. Diejenigen, die nicht in die Kirche gingen, galten als „schlechte Christen“. Ich bin froh über den Zugewinn an Freiheit, dass Menschen selbst bestimmen, ob und wann sie in den Gottesdienst gehen und dort zum Beispiel über das Leben nachdenken und in Gebeten für andere Menschen Fürbitten aussprechen. Mir ist wichtig, dass wir uns an einem Tag in der Woche bewusst machen, wer in unserer Stadt und auf dieser Welt Hilfe, Unterstützung, Gottes Segen oder Gottes Schutz braucht, und für diese Menschen beten. Darüber hinaus leisten wir in der Nordkirche wichtige diakonische Arbeit. Als Pröpstin im Kirchenkreis Hamburg-Ost bin ich auch mitverantwortlich für unser kirchliches Engagement in der Begleitung von Wohnungslosen, in der Flüchtlingshilfe und Jugendsozialarbeit. Auf diese Weise versuchen wir die Not vieler Menschen zu lindern und uns zivilgesellschaftlich zu engagieren.

Wie reagieren Sie denn konkret auf die von Ihnen als Traditionsabbruch bezeichnete Abwendung von der Kirche? Wir bemühen uns, eine Sprache zu sprechen, die jeder verstehen kann, also weniger abgehoben, pastoral oder dogmatisch zu reden, sondern lebensnah und konkret vom Glauben zu erzählen. Die Bibel ist voll von prägnanten Geschichten, die auch heute noch Orientierung geben und Gemeinsinn stiften. Zum Beispiel machen wir, vor allem meine Kollegin Carolin Sauer, Angebote für Schulklassen und zeigen diese Kirche Kindern, die zum Teil noch nie eine Kirche von innen gesehen haben. Die Kirche wird Lern- und Erlebnisraum.

Wie muss man sich das vorstellen? Es kommt vor, dass Kinder uns fragen, warum Jesus am Kreuz hängt. Andere Kinder staunen über die biblischen Geschichten, wie zum Beispiel die vom barmherzigen Samariter, der sich um einen Menschen kümmert, der von Räubern brutal überfallen worden war. Es gibt ganz wunderbare Geschichten in der Bibel, die man Kindern sehr spannend erzählen kann. Und Kinder müssen auch nicht die ganze Zeit still in der Bank sitzen, sondern sie sollen sich in der Kirche frei bewegen, sie erkunden und entdecken und so den Kirchenraum neu und anders erleben als früher. Mit Konfirmandinnen und Konfirmanden gehen wir durchs Quartier und auf die Flussschifferkirche, und sie finden es absolut cool, dort oder in St. Katharinen zu übernachten. 

Und die Erwachsenen? Zur Gruppe der 20- bis 30-Jäh­rigen bekommen wir schwer Kontakt, da man in dem Alter mit der Kirche und ihren klassischen Angeboten häufig wenig zu tun hat. Man heiratet heutzutage eher später und bekommt auch deutlich später Kinder, sodass sich die Themen kirchliche Trauung oder Kindestaufe erst viel später stellen. Aber wenn diese Schritte gewünscht sind, sind wir Pastorinnen und St. Katharinen da und gestalten wunderschöne lebendige Feste. Das bekommt man nirgendwo im Quartier so lebensnah, persönlich und fröhlich wie in St. Katharinen. 

Kann denn St. Katharinen im Imagewettbewerb gegen den Michel, die Hamburger Kircheninstitution St. Michaelis, anstinken? Ach, das brauchen wir überhaupt nicht. Der Michel spielt in einer anderen Liga, ist Wahrzeichenund Wohnzimmer der Stadt. St. Katharinen ist hingegen mit unserem wunderbaren Kirchturm nicht nur ein geografischer und symbolischer Orientierungspunkt, sondern ein Leuchtturm, der seit 770 Jahren vom christlichen Glauben und einer christlichen Kultur erzählt, ohne die diese Stadt nicht groß geworden wären. St. Katharinen ist die Kirche am Hafen, die Kirche der Tuchmacher, Schiffbauer und Bierbrauer. Sie hat eine jahrhundertealte Tradition, war immer ganz eng mit den Menschen verbunden, die hier gelebt und gearbeitet haben. Und durch den Bau der HafenCity sind wir von der etwas leblosen randständigen Lage zwischen Willy-Brandt-Straße und Zollkanal in die neue Mitte Hamburgs gerückt. St. Katharinen fungiert als Brückenpfeiler, als Bindeglied zwischen der Innenstadt und der HafenCity, die neue Mitte. Und die HafenCity braucht uns. 

Hauptkirche St. Katharinen mit Zollkanal und Kornhausbrücke, die Verbindung von HafenCity, Speicherstadt und Altstadt: „Um uns herum sind Menschen, die unseren Stadtteil ­umkrempeln, ihn kommunikativer, verkehrsärmer und grüner mitgestalten wollen. Nachbarn, die sich dafür einsetzen, dass eine bessere Infrastruktur entsteht und aus dem früheren Parkhaus Gröninger Hof ein nachhaltiges Baugemeinschaftsprojekt zum Arbeiten und Wohnen wird. Altstadt und HafenCity für alle!“ © picture alliance | Rupert Oberhäuser

Braucht denn St. Katharinen die junge vielfältige Stadtgesellschaft der HafenCity? Sie braucht die Menschen der HafenCity, weil wir nur mit ihnen zusammen an der Kirche weiterbauen und die Stadtgesellschaft weiterentwickeln können. Nur zusammen können wir für Frieden und Versöhnung und für eine lebenswerte Umwelt einstehen. Zum Glück hat St. Katharinen mit der HafenCity ihre traditionelle Gemeinde am Hafen und am Wasser wiederbekommen. Als ich hier vor 20 Jahren anfing, hatten wir 850 Gemeindeglieder, wovon rund 500 nicht einmal in unserem Quartier wohnten, sondern irgendwo in Hamburg und sich von dort nach St. Katharinen umgemeindet haben. Heute sind wir über 1.450 Gemeindeglieder, und die überwiegende Mehrzahl wohnt hier. Das ist für St. Katharinen ein Geschenk. Wir dürfen mit dem Stadtteil HafenCity wachsen und tatsächlich erleben, wie diese Kirche wieder jünger wird und immer stärker hier vor Ort mitten im Leben aktiv ist – mit Jazzkonzerten, Lasershows in der Nacht der Kirchen und Lesungen junger und bereits etablierter Autorinnen und Autoren sowie unseren berühmten Festen auf dem Katharinenkirchhof.

Was war in den vergangenen Jahren Ihr wichtigster Meilenstein in der Arbeit für St. Katharinen? Die Sanierung dieser Kirche. Ich war frisch gewählt, und dann legte mir der Kirchengemeinderat, unser Leitungsgremium, ein Gutachten vor, in dem stand, dass diese Kirche dringend sanierungsbedürftig sei und dass das rund 13 Millionen Euro kosten würde – aber die Kasse war leer, denn St. Katharinen hatte keine Rücklagen bilden können. Die Gemeinde hatte ihr gesamtes Vermögen in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Wiederaufbau, Betrieb und notdürftigen Erhalt der Kirche gesteckt. 

Ein charmantes nachträgliches Wahlgeschenk. Ja, so kann man das nennen. Kaum dass ich angefangen hatte, war unser Gotteshaus von der Schließung bedroht.

Hauptpastorin Ulrike Murmann: „Wir dürfen mit dem Stadtteil HafenCity wachsen und tatsächlich erleben, wie diese ­Kirche wieder jünger wird und immer stärker hier vor Ort mitten im Leben aktiv ist – mit Jazzkonzerten, mit Lasershows in der ,Nacht der Kirchen‘ und Lesungen junger und bereits etablierter Autorinnen und Autoren sowie unseren ­berühmten Festen auf dem Katharinenkirchhof.“ © Catrin-Anja Eichinger

Und Sie haben sich zur Überraschung von Skeptikern erfolgreich als Fundraiserin stadtweit einen Namen gemacht. Ja, wir mussten nicht schließen, haben unser einzigartiges Sandsteinportal, den Kirchturm wie auch die gesamte Kirche restaurieren können. Das hat mich die ersten zehn Jahre als Hauptpastorin an St. Katharinen ziemlich in Anspruch genommen. Wir haben ein Fundraising-Konzept entwickelt, Fördermittel beim Bund und bei der Stadt eingeworben sowie Spenden bei vielen Stifter:innen, Bürger:innen  und Unternehmern. Und ja, wir haben es geschafft. Aber ich habe auch vielen Vorständen und Direktoren gegenübergesessen, die nichts gegeben haben. Doch bei den wichtigen hatte ich Erfolg, und das Schöne war und ist, dass St. Katharinen damals – und mehr noch heute – damit eine wichtige Funktion in dieser Stadt übernommen hat. Unsere Hauptkirche führt Menschen unterschiedlicher Couleur, Berufe und Milieus zusammen, ist ein Begegnungs- und ein Friedensort. Wir laden zu runden Tischen ein, wenn es im gesellschaftlichen Umfeld zu Konflikten kommt. Wir sind ein Ort, an dem man mit Menschen ins Gespräch kommt, die politisch unterschiedliche Meinungen vertreten, die oft eine andere Herkunft haben als man selbst, die eine Vielfalt abbilden, die sonst nur selten zusammenkommt und zusammen feiert.  

St. Katharinen ist neben dem katholischen Kleinen Michel in der Neustadt und dem Ökumenischen Forum in der Shanghaiallee die große evangelische Hauptkirche in der Altstadt und der HafenCity. Was ist außer den Konfessionsunterschieden die DNA von St. Katharinen? Ich vermute, wir sind freier als andere Kirchen. St. Katharinen ist ein Ort, an dem Experimente erwünscht sind und an dem wir die Freiheit haben, Neues auszuprobieren und mit jungen Menschen zu improvisieren. Wir sind ja auch Universitätskirche, und so kommen immer wieder Studierende zu uns, um ihre Themen, ihre Musik und neue Rituale auszuprobieren. Es sind Studierende der Hamburger Uni, aber auch der HafenCity Universität HCU und der Hochschule für Musik und Theater. Wir laden Künstler:innen ein, ihre Werke bei uns auszustellen, veranstalten Konzerte aller Art und erleben spannende Vorführungen von Tänzern, Schauspielern und Musikern. Selbstverständlich kommen auch Menschen, die uns als Seelsorgerinnen aufsuchen, die Hilfe und Trost brauchen. Und um uns herum sind Menschen, die unseren Stadtteil umkrempeln, ihn kommunikativer, verkehrsärmer und grüner mitgestalten wollen. Nachbarn, die sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass eine bessere Infrastruktur entsteht und aus dem früheren Parkhaus Gröninger Hof ein nachhaltiges Baugemeinschaftsprojekt zum Arbeiten und Wohnen wird. Altstadt und HafenCity für alle! Das macht uns aus. Das macht meine und unsere Arbeit hier so spannend, und es wird echt nie langweilig.

Vor einem Dreivierteljahr ist der in HafenCity und Innenstadt populäre St.-Katharinen-Pastor Frank Engelbrecht zur Kirchengemeinde Blankenese gewechselt. Er war ein extremer Öffentlichkeitsarbeiter im Stadtteil-Garten des Herrn und in vielen Stadtteilausschüssen vertreten. Vermissen Sie beziehungsweise Ihre Gemeinde ihn? Ja, natürlich vermisse ich, vermissen wir ihn, im Team und in der Gemeinde. Er hat über 20 Jahre lang in St. Katharinen gewirkt. Er war schon da, als ich kam. Schließlich hat Frank Engelbrecht die Gemeinde mit seinem Engagement und Temperament sowie mit außergewöhnlichen Projekten, die er häufig auch selbst angeschoben hat, maßgeblich geprägt. Wie gesagt, wir vermissen ihn, alles andere wäre auch merkwürdig. Andererseits ist es in unserer evangelisch-lutherischen Kirche nicht ungewöhnlich, dass man nach 20 Jahren noch einmal einen ganz neuen Schritt wagt. So hat er seit November 2023 in der Kirchengemeinde Blankenese eine neue Herausforderung in einem ganz anders geprägten Stadtteil gesucht, wo er nun andere Milieus miteinander verbinden möchte.

Pastorin Katharina Fenner hat Anfang dieses Jahres die Nachfolge von Frank Engelbrecht angetreten. Wie groß sind für sie die Nachfolge-Schuhe ihres Vorgängers Engelbrecht? Katharina Fenner wird eigene Schuhe mitbringen. Sie hat zehn Jahre in der Gemeinde der Christianskirche Ottensen gearbeitet, die ein ähnliches Profil wie St. Katharinen hat: stadtteilorientiert, kulturaffin und innovativ. Dort hat sie erfolgreich Dinge angeschoben und viele Erfahrungen gesammelt, die sie für St. Katharinen prädestiniert haben. 

Was hat sie, was Frank Engelbrecht nicht hatte? Erst einmal kann man eine Frau mit einem Mann nicht wirklich vergleichen, weil Frau schon durch ihr Geschlecht einen anderen Auftritt hat. Für mich – und für den Kirchengemeinderat, der sie mit ausgewählt hat – ist sie eine sympathische, kluge, humorvolle und kreative sowie sprachbegabte Frau, die große Lust auf diesen Ort hat. Sie freut sich darauf, hier die Gemeinde weiter aus- und aufzubauen, und wird auch ins Pastorat einziehen und vor Ort leben. Sie wird es anders machen als Frank Engelbrecht, weil sie ein anderer Mensch mit anderen Ideen, Fähigkeiten und Kompetenzen ist. Katharina Fenner (49) wird sich vornehmlich auf die Quartiersarbeit konzentrieren, während Pastorin Carolin Sauer (35) einen Schwerpunkt in der Arbeit mit Kindern hat.

Ihr Vater war der ­frühere Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann, und Sie sind in einem klassischen Kieler CDU-Haushalt aufgewachsen. Was zeichnet die politische Theologin Ulrike Murmann aus? Sind Sie eine konservative Kirchenstimme? Da stehe ich drüber. Ich ordne mich keiner Partei zu und finde es wichtig, dass Kirche politisch unabhängig ist. Wir sollten uns aber als Kirche zu den Themen, die unserem christlichen Auftrag entsprechen, mit Kooperationspartnern und Initiativen zusammenschließen, um stärker wirken zu können. Zum Beispiel mit zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Fridays for Future, um für eine andere Klimapolitik zu werben. 

Wenn man offen für vieles ist, fehlt es dann eventuell an Haltung? Absolut nein. Die verlange ich von mir selbst und anderen. In meinen Gottesdiensten spreche ich davon, dass die Menschen sich selbst eine Meinung bilden sollen. Anders als in Hirtenbriefen, in denen den Menschen früher gesagt wird, was sie zu denken und zu wählen haben. Mein Motto ist: Entscheide selbst! Eine mündige Christin, ein mündiger Bürger hat Maßstäbe, an denen wir uns alle orientieren sollten: Werte.

Und wer legt die fest? Nehmen Sie doch die zehn Gebote des Alten Testaments. Oder das Liebesgebot und die Würde des Einzelnen und der Schwachen, für die wir als Kirche einstehen. Zu unseren Werten gehören auch der Respekt vor Andersdenkenden und Andersgläubigen sowie das Recht auf ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit. Das sind zum Beispiel Maßstäbe, an denen ich mich messe und ich auch andere messe.

Sie haben zur „Theorie der Sünde“ promoviert und 2007 das Buch „Auf Teufel komm raus. Von Wollust, Geiz und anderen Todsünden“ herausgegeben. Haben Sie eine dunkle Erotik-Seite? Ich habe bestimmt eine Erotik-Seite (lacht), doch die ist nicht dunkel, sie macht mein Leben eher hell. Ich kenne natürlich dunkle Seiten, wenn ich Zweifel an Menschen oder Situationen habe; wenn ich feststelle, dass ich Fehler gemacht oder einem Menschen wehgetan habe. Man verdrängt das gerne, was jedoch falsch ist. Es hilft vielmehr, Licht in sein Dunkel zu bringen. Dabei hilft mir mein Glaube, der mich hält und mich darauf vertrauen lässt, dass ich nicht fallen gelassen und auch nicht untergehen werde. Er gibt mir das Zutrauen, dass ich trotz meiner Fehler geliebt werde. 

Welchem Ihrer Buchautoren in „Auf Teufel komm raus“ von Reinhold Beckmann über Kai Dieckmann oder Ole von Beust stehen Sie nahe? Allen. Das Schöne an dieser Reihe, die ich organisiert habe, war, dass alle Referenten in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit Lust hatten, über das Thema Todsünden zu sprechen. Die Autoren halfen mir seinerzeit auch dabei, während der Spendensammlung für die Restaurierung von St. Katharinen die Aufmerksamkeit in der Stadt wieder auf unsere Hauptkirche zu lenken. Die prominenten Vertreter aus der Öffentlichkeit unterstützten damit nicht nur die Spendenakquise, sondern die Kirche war an den Abenden damals immer bis auf den letzten Platz gefüllt, und alle konnten wahrnehmen, was für ein schöner Ort St. Katharinen ist. 

Auch gegensätzliche Autorinnen wie Bischöfin Maria Jepsen oder die frühere SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis († 2023) schrieben in „Auf Teufel komm raus“. Möchten Sie Gegensätze versöhnen? Mich interessieren immer verschiedene Sichtweisen auf Themen, das ist genau die Stärke von Kirche. 

Beim republikanischen US-Präsidentenkandidaten Donald Trump versagt diese Zielsetzung, oder? Donald Trump ist für mich die Inkarnation von Hochmut auf zwei Beinen, der abfällig und ohne Respekt über andere spricht. Für ihn müsste man eine weitere Todsünde definieren, die Lüge. Hochmut ist eine gefährliche Haltung in unserer Zeit. Manche Menschen meinen, sie könnten die Welt beherrschen. Demut ist jedoch das, was wir brauchen, insbesondere gegenüber Herausforderungen, vor die uns der Klimawandel und unser Umgang mit der Schöpfung stellen. Wir sind nur ein Teil der Schöpfung, und wir dürfen sie eben nicht ausbeuten. 

Wie navigieren Sie durch den aktuellen gesellschaftlichen Dschungel aus autokratischen Regierungen wie in Ungarn oder dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine oder den Überfall der Hamas auf Israel? Es ist nicht einfach. Statt Hochmut hilft Demut dabei, zu akzeptieren, dass es definitiv keine einfachen Antworten gibt. Einfache Antworten gibt die AfD und sorgt so für reines Schwarz-Weiß-Denken. Deswegen bin ich in all diesen friedensethischen Fragen besonders differenziert, besonnen und nachdenklich. 

Kann Kirche denn zu einem gesellschaftlich stärkeren Wir statt dem rücksichtslosen Ego
beitragen? 
Ja, da kommt meine positiv hoffende Neigung zum Tragen. Ich bin Christin und feiere gerne Gottesdienste, die hoffentlich ein gemeinschaftliches Wir und einen Gemeinsinn stiften. Mein Anspruch ist es, mit den Gottesdiensten das Leben in seiner ganzen Breite abzubilden, und dazu gehören Freude wie auch Leid, gehören der Kummer und das Beklagen von ungerechten Strukturen. Die Welt muss anders werden, und dafür müssen wir etwas tun. Dazu haben wir als Menschen und als Kirche einen ethischen Auftrag. 

Das heißt? Als Pastorin habe ich einen diakonischen und einen seelsorgerischen Auftrag. Der seelsorgerische bedeutet, dass ich hinhöre und wahrnehme, wo Menschen leiden, und prüfe, wie ich persönlich oder wir als Kirche und Gemeinde ihnen zur Seite stehen können. Es gibt so viel Not auf der Welt und in unser aller Leben. Die Stärke des christlichen Glaubens zeichnet aus, dass er diese Not ansieht und dabei nicht stehen bleibt, sondern mit Hoffnung, Trotz und Tat darauf antwortet. 

Wie finden Sie als in Winterhude lebende Hamburgerin persönlich die HafenCity? Ich schlendere gerne durch die HafenCity und halte mich vorzugsweise an Plätzen und am Wasser auf. Insgesamt hat die HafenCity jedoch deutlich zu wenig Grün, und mir fehlt ein wenig die Mitte, ein Zentrum, wo sich irgendwann alle treffen. Sie ist wie eine Ellipse mit dem Leuchtturm Elbphilharmonie an der westlichen und, wenn er denn fertig gebaut wird, dem Elbtower oder eben den Elbbrücken an der östlichen Seite. 

Meinen Sie mit Mitte Großzügigkeit? Auch. Die HafenCity hat hervorragende Plätze mit den Magellan-Terrassen am Sandtorhafen oder den Marco-Polo-Terrassen am Grasbrook-Hafen mit Blick auf die Elbphilharmonie. Sie liegen am Wasser und bieten gute Perspektiven auf den Hafen und die Stadt. Die Mitte der HafenCity ist wohl weniger ein einzelner Ort oder Platz, sondern die Weite. Es gibt diesen schönen Psalmvers 31,9: „Du stellst meine Füße auf einen weiten Raum.“ Ich liebe am Hafen diesen Blick in die Ferne, Sehnsucht empfinden und rausfahren in die Weite. So sehe ich mich: Ich bin von Gott in einen weiten Raum gestellt, nicht in einen engen. Und diesen weiten Raum habe ich auch hier in St. Katharinen, weil es eine helle, lichte, eine weite Kirche ist.

Das neue Westfield Hamburg-Überseequartier will mit Eröffnung am 17. Oktober „das Herz
der HafenCity“ werden. Kann das gelingen?
Das kann ich mir nicht vorstellen, dazu reicht meine Fantasie nicht aus. Das Überseequartier ist ein ökonomisch schlagendes Herz mit Wirtschaft, Einkauf und Konsum. Ein echtes Herz schlägt für Menschen, für meinen Nächsten, für meinen Gott.  

Und wenn das Herz wie Mammon nur das Geld und größer, höher, weiter kennt, also keinen Gott hat? Dann sucht es ihn eben noch.

Wie schalten Sie vom Kirchenjob einer Hauptpastorin ab? Das tue ich, indem ich leidenschaftlich gerne ins Theater und in klassische Konzerte gehe, bevorzugt auch mit meinem Mann Joachim Knuth, der als NDR-Intendant sich kaum ein Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters entgehen lässt. Ich liebe Kultur! Abschalten kann ich auch mit meiner Familie oder mit Freunden oder wenn ich – als in Kiel Geborene – am Meer spazieren gehe.

Nord- oder Ostsee? Nordsee, weil es da Wellen gibt. 

Und was lesen Sie? Ich freue mich schon darauf, in den Ferien das neue Buch „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ von Saša Stanišić zu lesen. Von seinem Buch „Herkunft“ war ich restlos begeistert. 

Sind Sie Fan einer Künstler:in wie aktuell die Swifties von Taylor Swift? Kein Fan in dem Sinne, aber die Musik von Adele finde ich großartig, und ihre Songs kann ich fast alle mitsingen.

Schon wieder eine Frau. Im Zweifel sind Sie ein Frauentyp? Da widerspreche ich nicht. 

Sie haben als Pastorin einen Wunsch ohne Hindernisse frei. Was machen Sie, seien Sie mal Göttin? Dass sich Putin zurückzieht und die Ukrainer:innen wieder in Frieden leben können.

Das Gespräch führte Wolfgang Timpe

Nachrichten von der Hamburger Stadtküste

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