Jan Ehlert: Nur weil ein Künstler eine Meinung vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen, heißt das also nicht, dass er kein guter Künstler ist. Und Irren ist bekanntlich menschlich, das wissen wir schon seit Cicero. © Privat
Irren ist menschlich

Literatur zur Lage im Mai – #43: Unser HCZ-Autor Jan Ehlert beschäftigt sich in seiner Mai-Kolumne mit der Aufregung und dem Shitstorm um die Schauspieler:innen-Aktion #allesdichtmachen

Der britische Nobelpreisträger George Bernard Shaw war bekannt als ein Mann der klaren Worte. „Natürlich spricht sich der durchschnittliche Arzt für Impfungen aus, denn er verdient damit sein Geld“, ätzte er schon 1906 im Vorwort zu seinem Stück „Des Doktors Dilemma“. Und noch 1930 nannte er Impfungen gegen die Pocken ein „besonders schmutziges Stück Hexerei“. 
Foto oben. Jan Ehlert: „Nur weil ein Künstler eine Meinung vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen, heißt das also nicht, dass er kein guter Künstler ist. Und Irren ist bekanntlich menschlich, das wissen wir schon seit Cicero.“ © Privat

Ja, es ist naiv und auch gefährlich, sich an Kampagnen zu beteiligen, die man nicht hinterfragt, Texte einzusprechen, deren Autor und dessen Absicht man nicht kennt. Unwissenheit schützt vor Verantwortung nicht.
#allesdichtmachen. Jan Ehlert über die mitmachenden Künstler wie Schauspieler Jan Josef Liefers. „ Ja, es ist naiv und auch gefährlich, sich an Kampagnen zu beteiligen, die man nicht hinterfragt, Texte einzusprechen, deren Autor und dessen Absicht man nicht kennt. Unwissenheit schützt vor Verantwortung nicht.“ © mauritius images / Reynaldo Chaib Paganelli / Alamy

Geschadet hat dieser – nennen wir ihn: Irrtum – seinem Ruf wenig. Shaw wurde 1939 dennoch mit einem Drehbuch-Oscar ausgezeichnet, und „Des Doktors Dilemma“ gilt bis heute als eines seiner besten Stücke. Auch, weil Shaw darin so schwierige ethische Fragen wie die der Triage vorwegnimmt: Welches Leben ist es eher wert, gerettet zu werden? Und wie kann ein Arzt diese Verantwortung tragen? 

Nur weil ein Künstler eine Meinung vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen, heißt das also nicht, dass er kein guter Künstler ist. Und Irren ist bekanntlich menschlich, das wissen wir schon seit Cicero.

Nur weil ein Künstler eine Meinung vertritt, die wir möglicherweise nicht teilen, heißt das also nicht, dass er kein guter Künstler ist. Und Irren ist bekanntlich menschlich, das wissen wir schon seit Cicero. Das sollte man nicht vergessen, wenn man über die Kampagne #allesdichtmachen urteilt. Ja, es ist naiv und auch gefährlich, sich an Kampagnen zu beteiligen, die man nicht hinterfragt, Texte einzusprechen, deren Autor und dessen Absicht man nicht kennt. Unwissenheit schützt vor Verantwortung nicht. 

Aber genauso ist es gefährlich, eine ernstgemeinte Entschuldigung nicht anzunehmen und, wie es einzelne Politiker tun, ein Berufsverbot zu fordern. „Hättest Du geschwiegen, wärest Du ein Philosoph geblieben“ – auch diese Weisheit verdanken wir den alten Römern. Doch selbst Immanuel Kant, einst ein entschiedener Impfgegner, änderte seine Ansicht und blieb Philosoph. Ja, selbst Tyrannen können „ein menschliches Rühren“ spüren und ihre Meinung ändern: „Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen“, spricht Dionys zu Damon am Ende von Schillers Bürgschaft. 

Auch George Bernard Shaw würde heute vermutlich anders über die Pocken schreiben. Über die Gefahr, die von ihnen ausgeht, wissen wir inzwischen deutlich mehr. Und wie wichtig gerade hier das Impfen war, um der Krankheit weltweit Einhalt zu gebieten, das kann man derzeit in Steffen Kopetzkys neuem Roman „Monschau“ nachlesen. Darin schreibt er über einen realen Ausbruch der Pocken in Deutschland – nicht irgendwann im vorletzten Jahrhundert, sondern 1962. 

Zu der Frage, ob Satire erlaubt sein darf, auch wenn sie wehtut und unsere Meinung nicht widerspiegelt, hat dagegen Shaw selbst schon alles gesagt, in seinem Stück „Des Doktors Dilemma“: „Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn Leute sterben, so wenig, wie es aufhört, ernst zu sein, wenn Leute lachen.“ Jan Ehlert

Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine Kolumne „Literatur zur Lage“. © Privat

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