»Kann denn Kunst zollfrei sein?«

Kolumne »Literatur zur Lage« von HCZ-Kolumnist Jan Ehlert, Folge #90

Kolumnist Jan Ehlert zitiert den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert in Bezug zum Corona-Lockdown: Die Tür schließt sich hinter ihm und nun, so Borchert, „hatte man mich mit dem Wesen allein gelassen, nein, nicht nur allein gelassen, zusammen eingesperrt, vor dem ich am meisten Angst habe: Mit mir selbst“. © Privat
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Ratlos stehen die drei US-amerikanischen Zollbeamten um die Figur herum. Dieses blank polierte Bronzeteil soll Kunst sein? Einen Vogel stelle es dar, behauptet zumindest der Mann vor ihnen, Constantin Brancusi. Doch so leicht lassen sich die Zollbeamten nicht täuschen: „Ihr Kunstverständnis war umso rigoroser, als die Kunst an ihrer amerikanischen Grenze zollfrei war, sie aber die polierte Bronzefigur als Manufakturware zu verzollen gedachten.“

Fast 100 Jahre ist es her, dass sich diese Posse an der amerikanischen Grenze ereignet hat. Davon erzählt Dana Grigorcea in ihrem wunderbar leichtfüßigen Künstlerroman „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“. Heute, in Zeiten, in denen ein US-Präsident scheinbar erratisch den Zollhandel neu definiert, würde Constantin Brancusi vermutlich umgekehrt reagieren: Bloß kein Kunstwerk, nein, es ist einfach nur ein Stück Metall. Denn nicht nur auf die Wirtschaftsgüter der EU sollen Strafzölle erhoben werden, auch auf Kunst und Kultur aus Europa drohen Aufschläge von bis zu 100 Prozent. 

»Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei. Die Gedanken sind frei.«
Aus: »Des Knaben Wunderhorn«, von Achim von Arnim und Clemens Brentano

Damit möchte Donald Trump die heimischen Branchen stärken, ließ er verlauten. „America First“, nichtamerikanische Einflüsse sollen lieber draußen bleiben. Doch Kultur lebte schon immer vom Austausch mit dem Anderen. Davon erzählen die Reiseromane von Friedrich Gerstäcker, davon zeugen umgekehrt auch die klugen Bücher von Jonathan Franzen, in denen der US-Amerikaner seine Eindrücke aus Deutschland verarbeitete. Grenzen und Zölle können diesen Austausch auch in Zukunft nicht aufhalten. Nicht umsonst heißt es in dem alten Lied, das sich in Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ findet: „Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei. Die Gedanken sind frei.“ 

Und doch: Sollten die Zölle kommen, hätte das drastische Auswirkungen. Kunst und Kultur werden sich zwar neue Wege bahnen, erreichen damit aber bei Weitem nicht so viele Menschen wie bisher. Für die Massen bleibt nur Mainstream. Was das für Folgen hat, das hat ein anderer Zollinspektor der Weltliteratur, Axel Borg, schmerzlich erfahren. In August Strindbergs großartigem Roman „Am offenen Meer“ heißt es: „Überall aber sah er, wie die Menschen derselben Epoche dieselben Meinungen über dieselben Dinge äußerten, die Meinung der Mehrheit als ihre eigene hinstellen, Phrasen von sich gaben anstelle von Gedanken.“ 

Für Borg ist es der Anfang vom Ende: Seine Geschichte ist die eines beständigen Abstiegs. Für Constantin Brancusi gab es dagegen ein überraschendes Happy End: Zwei Jahre nach seinem Zollabenteuer urteilten die US-amerikanischen Gerichte über seine Skulptur – und gaben ihm recht: „It’s a bird!“ Eine besonders schöne Art, allzu rigorosen Zollgesetzen humorvoll den Vogel zu zeigen. Jan Ehlert

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Jan Ehlert lebt in Hannover und der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine ­Kolumne »Literatur zur Lage«. © Privat

PS. Foto oben: L’oiseau d’or, Der Goldene Vogel, von Constantin Brancusi – hier bei der November-Auktion 2022 von moderner und zeitgenössischer Kunst von Sotheby’s in New York City. © picture alliance / newscom | JOHN ANGELILLO

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