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Katar 2022. Am 20. November beginnt die erste Winter-Fußball-WM der Welt in der Wüste. Für Gerhard Waldherr, Sportjournalist und Herausgeber des Kickerbuchs „WM und Ich“, schreibt für die HCZ, warum er seit 1970 bei Fußball-Weltmeisterschaften regelmäßig in ein Paralleluniversum gleitet und mit Katar hadert

Am 18. Juni 1970 fuhr mein Vater nach Bad Tölz und kaufte bei Elektro-Müller einen Fernseher. In der Nacht zuvor hatte die Familie bei meinen Großeltern das Jahrhundertspiel gesehen. Großes Drama, 3:4 nach Verlängerung, ein epochales Match. Danach kam es zu einem Streit mit meinem Großvater, der sich beschwerte, dass während der Übertragung zu laut geschrien und zu heftig auf den Polstermöbeln herumgesprungen wurde. So bekamen wir unseren ersten Grundig, eine klobige Kiste mit Eichenfurnier, auf dem wir am darauffolgenden Samstag das Spiel um Platz drei sahen. Mein erstes Fernseherlebnis im elterlichen Wohnzimmer.
Foto oben: Sportjournalist Gerhard Waldherr: „Unvergessen auch der Tag, an dem ich meine heutige Frau kennenlernte. Es war der 7. Juli 2006, der Tag vor dem Spiel um Platz drei bei der Heim-WM in Stuttgart.“ © picture-alliance | Pressefoto ULMER/Andreas Schaad

Sportjournalist Gerhard Waldherr: „Ich kann nicht Schluss machen mit WM.“ © David Payr
Sportjournalist Gerhard Waldherr: „Ich kann nicht Schluss machen mit WM.“ © David Payr

Weltmeisterschaften sind mehr als Fußballturniere. Was beim größten globalen Sportevent passiert, prägt und bleibt. Manchmal für immer. Ich weiß nicht mehr, was ich an meinem 37. Geburtstag oder achten Hochzeitstag gemacht habe und wo ich am Tag der Bundestagswahl 2009 war; irgendwo in der Türkei, vermutlich in Istanbul, aber vielleicht auch in Ankara. Aber ich weiß noch ganz genau, wo und mit wem ich WM-Spiele gesehen habe, weil mein Leben während einer Weltmeisterschaft seit 1970 stets in ein Paralleluniversum gleitet. Ich mache meine beruflichen und privaten Termine nach dem Spielplan, lese täglich den Sportteil, der mich davor und danach schon lange nicht mehr interessiert und treffe andere Leute als sonst. Ich habe überall auf der Welt Fernseher gesucht, in Neufundland, Kasachstan, Neapel und Wien, wo ich mich während einer Hochzeit einmal zwei Stunden in eine Kneipe wegstahl, um Fußball zu kucken.

Und so sind Weltmeisterschaften für mich zu Meilensteinen der Erinnerung geworden. Momentaufnahmen des Aufwachsens und Älterwerdens im Vierjahresrhythmus. Unvergessen der Anblick des Mannschaftsbusses von Haiti 1974, der vor einem Gasthaus in meinem oberbayerischen Dorf parkte. Elektrisierend bis heute die ersten Zeilen eines Textes aus der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) 1986 über das Spiel Brasilien – Frankreich (3:4 n.E.): „Die Samba stirbt, sie stirbt eines jähen, eines grausamen Todes, die Trommeln verstummen, die grün-gelben Fahnen sinken in den Staub.“ Danach wollte ich Sportjournalist werden bei der SZ. Und bin es geworden. 

Das Halbfinale England-Deutschland 1990 sah ich im Pressezentrum von Wimbledon; das Finale 1998 in New York mit einer bezaubernden jungen Dame aus Tirol – schwarz war ihr Haar, die Augen wie zwei Sterne so klar. Unvergessen auch der Tag, an dem ich meine heutige Frau kennenlernte. Es war der 7. Juli 2006, der Tag vor dem Spiel um Platz drei bei der Heim-WM in Stuttgart. Bei der WM 2010 in Südafrika saß ich schon mit unserem Sohn auf dem Schoß vor dem Fernseher. So viel zu Sommermärchen. 2014 dann die nächsten vier Wochen wie unter einem Brennglas inklusive Panini-Sammelbildwahn mit Tauschbörse im Edeka um die Ecke zwischen aufgeregten Kids und nervösen Müttern. Drei Neuer gehen einen Ronaldo. Wer hat einen Mbappé? Kleine Handgemenge wegen Glitzerstickern. 

Das, könnten Kritiker einwerfen, rechtfertigt noch lange nicht, eine WM in die Wüste zu schicken, wie es die FIFA nun mit dem Austragungsort Katar gemacht hat. Seit Monaten dominiert das Thema die Schlagzeilen, nicht nur in den Sportressorts. Autokratische Strukturen. Menschenrechtsverletzungen. Tote Arbeitsmigranten. Keine Geschlechterparität. Dazu Korruptionsvorwürfe hinsichtlich des Vergabeprozesses. Tenor: Eine WM der Schande. „Ein autoritärer Ministaat kauft sich eine WM“, sagt der renommierte Fußballreporter und Buchautor Christoph Biermann von 11 Freunde, „man könnte schlussfolgern, dass damit der Gipfel der Absurdität erreicht ist. Ist auch so, ist aber nicht die ganze Geschichte.“

Gerhard Waldherr (*1960, Bad Tölz), war Sportredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Reporter beim „stern“, freier Auslandskorrespondent in den USA und Chefreporter des Wirtschaftsmagazins „brand eins“. Seine Texte wurden mit diversen Journalistenpreisen ausgezeichnet und waren für den Kisch-Preis und den Deutschen Reporterpreis nominiert. Er hat mehrere Reportagesammlungen und Bücher über Unternehmen geschrieben und die 2020 erschienene Anthologie »Die erste Reise« (Reisedepeschen) herausgegeben.

Biermann sieht Katar ohnehin nicht als Präzedenzfall, sondern „in einer Traditionslinie“. „Bereits 1938 in Italien ist die WM von den Faschisten genutzt worden, um die Welt zu beeindrucken. 1978 hat die argentinische Junta damit die politische Verfolgung von Oppositionellen übertüncht, und 2018 in Russland hat massiv das Geopolitische reingespielt, was vielen erst jetzt so richtig klar wird.“ Dass Geld inzwischen alles dominiert – Ablösesummen in dreistelliger Millionenhöhe, horrende Gehälter, sündhaft teure Tickets? „Ich habe mich nie sonderlich daran gestoßen, dass Fußball ein Geschäft ist, sondern oft eher daran, dass es so idiotisch betrieben wird. Schon bei der WM 1998 in Frankreich herrschte ein Jahrmarkt der Sponsoren und eine durchformatierte Erlebniswelt.“

Der Fußball ist schon lange nicht mehr, was er war. Wie auch? Alles ist Wandel. Ein VW Käfer sieht heute auch nicht mehr aus wie 1954, zu Zeiten von Sepp Herberger, Fritz Walter und des Wunders von Bern. Gerade Weltmeisterschaften zeigen auf, wie die Welt sich verändert hat – die Medien, die Telekommunikation, das Marketing, die Event- und die Fankultur. Katar fällt so gesehen nicht vom Himmel. Der große Sport hat sich in den letzten 50 Jahren immer mehr am großen Geld orientiert und dabei zunehmend seine Werte und Ideale verkauft. Gigantomanie und Megakommerz sind die Folge. Und die lassen sich heutzutage offenbar nur noch mit Ausrichtern in autokratischen und diktatorischen Staaten realisieren. Wer hat nicht bestürzt auf die Meldung reagiert, dass die Asian Winter Games 2029 in Saudi-Arabien stattfinden sollen? 

Wenngleich: Die FIFA hat 180 Mitgliedsländer, von denen zwei Drittel wenig Wert legen auf Menschenrechte und Korruption zum Alltag gehört. Was also erwarten wir? Und welches demokratische Land ist heute noch in der Lage, die Voraussetzungen für Olympische Spiele oder Fußballweltmeisterschaften zu schaffen? Hinzu kommt: Die kritische Position gegenüber Katar ist sicherlich berechtigt, spiegelt aber die Meinung einer Minderheit wider.  Der Sportestsellerautor Ronald Reng meint: „Das Gefühl, der Fußball schaufele sich mit seiner Hyperkommerzialisierung sein eigenes Grab, ist ein eurozentrisches. Mehr noch: Es ist das Gefühl eines Teils der Fangemeinde, vor allem von Ultras und Journalisten, die finden, nicht nur der Breitensport, sondern auch der Profifußball habe eine gesellschaftliche Rolle zu erfüllen. Die meisten Menschen auf der Welt sind wohl einfach nur glücklich, bei einer Weltmeisterschaft zuschauen zu können.“

Bin ich glücklich, bei der WM in Katar – neben 3,5 Milliarden Menschen weltweit – zuschauen zu können? Werde ich in meine WM-Liebe eintauchen und vorurteilsfrei die Spiele genießen können? Christoph Biermann meint: „Der Fußball wird Katar überleben, weil er der beste Sport von allen ist.“ Ich weiß nicht, was die WM in Katar mit mir machen wird, ob es sich anfühlen wird wie immer oder doch ganz anders. Neulich fragte jemand, warum ich am Fernseher sitzen werde. Meine Antwort: „Vielleicht ist es so wie mit Gummibärchen, die von Kindesbeinen an ein wohliges Gefühl auslösen, obwohl ich weiß, dass sie ungesund sind und dick machen und ich sie besser nicht essen sollte.“ Noch kann ich nicht Schluss machen, nicht mit Gummibärchen und nicht mit WM. Gerhard Waldherr

INFO

„DIE WM UND ICH – Reporter erzählen“  – von Bern bis Katar, Momenten für die Ewigkeit und was aus dem Fußball geworden ist; Verlegt von M/ELEVEN by Maik Nöcker, Hamburg, 2022; Hrsg. Gerhard Waldherr; 320 S., Hardcover; ISBN 978-3-96233-356-0; 28,- Euro – Erhältlich über fussballmml.de und im Buchhandel.