Pianist, Komponist und Produzent Max Richter stichelt gegen das Althergebrachte: „Zeitgemäße Kompositionen entwerten Bach oder Beethoven in keinster Weise.“ © Yulia Mahr
»Mit Computern arbeiten«

Der Pianist und Komponist Max Richter kuratiert mit der Videokünstlerin Yulia Mahr das ­Reflektor-Festival, das vom 6. bis 10. Oktober in der Elbphilharmonie stattfindet

Max Richters Musik wird meistens der Neoklassik zugerechnet. Zu Unrecht – findet zumindest der Komponist selber. „Es gab bereits die Epoche des Neoklassizismus, die Komponisten wie Strawinsky, Prokofjew oder Hindemith geprägt haben“, doziert er im Videointerview. „Insofern ist der Begriff Neoklassik verwirrend, er führt in eine falsche Richtung.“ Überhaupt erscheint es ihm problematisch, Musik ganz eindimensional zu beschreiben: „Ich sehe meine Stücke in der Tradition jener Komponist:innen, die ihre musikalische Sprache immer weiterentwickelt haben.“ Wenn der 55-Jährige elektronische Elemente in seine Werke einfließen lässt, macht er seiner Ansicht nach nichts anderes als die Komponist:innen, die im 19. Jahrhundert neue Instrumente für sich entdeckten: „Die Menschen haben von jeher nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Warum also sollte man im 21. Jahrhundert beim Komponieren nicht mit Computern arbeiten?“
Foto oben: Pianist, Komponist und Produzent Max Richter stichelt gegen das Althergebrachte: „Zeitgemäße Kompositionen entwerten Bach oder Beethoven in keinster Weise.“ © Yulia Mahr

Puristen könnten wahrscheinlich etliche Gegenargumente nennen. Doch Gegenwind bringt Max Richter, geboren in Hameln, aufgewachsen in England, nicht von seinem Weg ab. „Menschen verändern sich, die Geschichte verändert sich“, grübelt er. „Dennoch ist es in der klassischen Musik Tradition, am Althergebrachten festzuhalten.“ Das hält er für einen Fehler: „Zeitgemäße Kompositionen entwerten Bach oder Beethoven in keinster Weise.“ Den Beweis dafür liefert seine jüngste Aufnahme „Exiles“. Sie ist quasi ein Best-of-Album, für das Max Richter Altvertrautes – natürlich auch sein wohl bekanntestes Stück „On the Nature of Daylight“ – mit dem Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung von Kristjan Järvi neu eingespielt hat.

Festival-Kurator Max Richter empfiehlt neben anderen Pianistin Elisabeth Brauß. Sie interpretiert Urmas Sisaks „Sternenhimmelzyklus“. © Monika Lawrenz
Festival-Kurator Max Richter empfiehlt neben anderen Pianistin Elisabeth Brauß. Sie interpretiert Urmas Sisaks „Sternenhimmelzyklus“. © Monika Lawrenz

Wie vielseitig der Komponist, Pianist und Produzent ist, belegt zudem das Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie, das er mit seiner Partnerin, der Filmemacherin und Videokünstlerin Yulia Mahr, kuratierte. Dort erklingen einige seiner eigenen Werke – sei es „Recomposed“, eine Neuinterpretation von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, oder „Voices“. Bei diesem Stück verliest die Schauspielerin Birgit Minichmayr zu kontemplativen Klängen den Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Eröffnet wird das Festival mit Max Richters achtstündiger nächtlicher Performance „Sleep“. „Diese Komposition ist eine Einladung, abzuschalten und sich auszuruhen“, sagt der Brite. „Sich mit größeren Dingen zu verbinden.“ 

Wenn man Max Richter um eine ganz persönliche Empfehlung für das Festival bittet, kann er sich gar nicht so recht entscheiden. Fasziniert ist er auf jeden Fall von der Drohnenorganistin Kali Malone. Er verweist auf die Pianistin Elisabeth Brauß, die Urmas Sisaks „Sternenhimmelzyklus“ interpretiert. Hervorheben möchte er zudem Daniel Brandts Projekt „Channels“, es schlägt mühelos eine Brücke zwischen Elektronik, Krautrock und Avantgarde. Das American Contemporary Music Ensemble oder die Amerikanerin Jlin, die ihre Wurzeln in der House-Szene hat, beeindrucken Max Richter ebenfalls.

„Wir präsentieren hauptsächlich Arbeiten, die die Welt, in der wir leben, hinterfragen“, bringt er es auf den Punkt. Nicht umsonst wurde Julius Eastmans „The Holy Presence of Jean d’Arc“ ins Programm gehoben. Dieses Stück des afroamerikanischen Komponisten schwankt zwischen Manie und Ekstase. Es ging Julius Eastman allerdings verloren, als ihm im Sumpf von Drogen, Alkohol und Obdachlosigkeit die Kontrolle über sein Leben entglitt. Die Rekonstruktion für zehn Celli von Clarice Jensen basiert auf einer Aufnahme. Für Max Richter ist es ein Plus, dass dieses Werk auf diese Weise erhalten geblieben ist: „Julius Eastmans Komposition wirft Fragen zu seiner eigenen Position in der Welt der Klassik auf. Für einen schwulen Schwarzen war die Situation gewiss herausfordernd.“ Dagmar Leischow

INFO Das Reflektor-Festival findet vom 6. bis 10. Oktober in der Elbphilharmonie statt. Weitere Informationen unter www.elbphilharmonie.de

Tipps der HafenCity Zeitung für das Reflektor-Festival:
• Sarah Davachi: „Antonio Gaudí“, 9. Oktober, 14 Uhr, Kleiner Saal
• Portico Quartet: „Terrain“, 9. Oktober, 20.30 Uhr, Kleiner Saal
• Jason Moran & Christian McBride: 10. Oktober, 18.30 und 21 Uhr, Kl. Saal

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