»Naturschutz ist kein Gedöns!«

Interview. Die HCZ hat Malte Siegert, 1. Vorsitzender Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU), aus Anlass der Bezirks- und Europa-Wahlen zur grünen Zukunft befragt  

Na klar, man hat unfassbar viel an Europa auszusetzen und doch möchte man keinen Millimeter der europäischen Freiheits-, Menschenrechts- und grenzenlosen Reise- und Warenverkehr aufgeben. Die Alternative zum ewigen Nörgeln: Wählen gehen und aus etwas Wunderbarem etwas viel Besseres zu machen. Dabei spielen Umwelt, Klima und Natur für eine lebenswerte Zukunft eine große Rolle. Lesen Sie mal, warum der Vorsitzende des NABU-Hamburg, Malte Siegert, der „Politk besonders viel Druck“ machen möchte. Viel Spaß beim Sammeln von inhaltlichen Argumenten, welche Partei wie viel Natur und Umwelt ernst nehmen will. Studieren Sie gerne auch die unten aufgeführte Grafik der „Auswertung“ des NABU, der die Parteien gefragt hat, wie viel Grün Sie vor Ort in ihrem Quartier, im Bezirk, wirklich wollen. 
Foto oben: NABU-Chef Malte Siegert: „Gott hat mit ,sich die Erde Untertan machen‘ sicher nicht ­gemeint, sie sukzessive zu zerstören.“ © NABU Hamburg

© NABU Hamburg

Herr Siegert, Ihre elf NABU-Wahlprüfsteine für die Bezirkswahl-Parteien haben ergeben, dass die Grünen 9, die Linke 11 und die FDP 7 sowie die SPD und die CDU jeweils nur fünf von den elf Natur-, Grün- und Klimazielen des NABU für Hamburgs Bezirke umsetzen wollen. Was folgern Sie für die Bezirkswahl am 9. Juni daraus?  

Das wir offenbar Teilen der politischen Landschaft besonders viel Druck machen müssen, damit sie die Notwendigkeit von Arten- und Lebensraumschutz endlich ernst nehmen. Problematisch ist, dass der politische Raum offenbar der Meinung ist, Klima- und Naturschutz gleichsetzen zu können. Dabei wird sich allein auf Maßnahmen zum Klimaschutz oder zur Klimafolgenanpassung konzentriert. Wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität finden immer noch nicht ausreichend statt. Nicht in den Hamburger Bezirken, nicht in Deutschland, nicht in Europa. Dabei ist Naturschutz kein Gedöns, sondern überlebenswichtig. Saubere Gewässer, die Filterfunktion intakter Wälder, kohlenstoffspeichernde Moore- das sind alles kostenfreie Leistungen der Natur für den Menschen. Und was machen wir? Wir zerschneiden Wegeverbindungen, versiegeln weiterhin munter Böden, Fahren mit riesigen Maschinen in Wälder und degradieren fortlaufend die Wirkung dieser Ökosystemdienstleistungen. Die europäische Zentralbank schätzt die Biodiversitätsrisiken auf rund die Hälfte des weltweiten Bruttosozialsprodukts! Die Finanzwirtschaft versteht mittlerweile besser als träge Politik, was die Stunde geschlagen hat: destroying nature will destroy economy.

Im Bezirk Hamburg-Mitte, Wahlkreis 01, regiert aktuell die Deutschland-Koalition aus SPD, CDU und FDP, die im Mittelfeld der NABU-Wünsche liegen. Welche Wahlziele sind für Sie im Bezirk Mitte und besonders in der HafenCity wichtig?  

Die Hafencity braucht dringend zusätzliche Maßnahmen bei der Grünentwicklung. Das wäre sowohl gut mit Blick auf stadtklimatische Aspekte sowie für die Bedeutung innerstädtischer Lebensräume. Auch kleine Habitate in der Stadt leisten bedeutende Beiträge, die nicht zu unterschätzen sind. Zudem kann noch deutlich mehr passieren, um die Lebensqualität im innerstädtischen Bereich zu erhöhen. Dazu gehörte auch – wie in Paris oder London – eine stärkere Einhegung des Verkehrs. Das wäre auch aus gesundheitlichen Gründen wichtig, weil die Folgekosten für die Sozialsystem wegen schlechter Luft enorm sind. 

Die aktuelle Klimakarte der Umweltbehörde weist die HafenCity für den Sommer als überhitztesten Stadtteil Hamburgs aus, wofür u.a. versiegelte Flächen, dichte Bebauung und zu wenig kühlendendes Grün verantwortlich gemacht wird – und die Elbe sorgt zusätzlich fürs Aufheizen. Welcher Koalition trauen Sie im Bezirk Mitte und der HafenCity zu, die nachhaltigsten Klima- und Umweltziele erreichen?  

Welche politische Konstellation sich am Ende um diese drängenden Fragen adäquat kümmert, ist mir egal. Denn: Den Anspruch, mehr für die Lebensqualität, die menschliche Gesundheit, das Stadtklima und die Stadtnatur zu tun, stellen wir an alle politischen Akteure. Meine Erfahrung ist, dass es weniger parteipolitische Interessen sind, sondern eher die Frage, welche Menschen etwas zusammen bewegen wollen. Und da können auch ungewöhnliche Allianzen mit weniger parteipolitischer Ideologie aber mehr Pragmatismus viel für den Bezirk erreichen. Lassen wir uns überraschen.

Außer den gewählten EU-Amtsträgern ist fast jede und jeder unzufrieden mit Europa und der unfassbaren Bürokratie. Was kann eine einzelne Stimme da bewegen?  

Jede einzelne Stimme für die Demokratie, für Europa und gegen jede Form von Extremismus, die dieses System zerstören will, ist unfassbar wichtig. Ich fürchte, viele Menschen haben- abgesehen vom Balkan- Ukraine-Krieg- vergessen, welche unschätzbare Segnung rund 80 Jahre Frieden in Europa ist. Wir leben in demokratischen Systemen, können überall in Europa arbeiten, unsere Meinung äußern, eine freie Presse genießen und wählen gehen. Was für Privilegien gegenüber autokratischen Systemen, in denen normale Menschen in ständiger Angst oder unter der Kontrolle repressiver Führer leben. Europa hat unbestritten Reformbedarf. Aber es ist ein fantastisches Projekt, an dem 450 Millionen Menschen teilhaben und ich kann überhaupt nicht verstehen, dass es mutwillig zerstört werden soll. Das wäre der Gau für die Wirtschaft, die Gesellschaften und die Natur gleichermaßen.

Was ist für Sie persönlich das wichtigste politische Ziel für die Europawahl?  

Dass die Menschen mit ihrer Stimme sowohl die Demokratie in und für Europa sichern und gleichzeitig den Naturschutz stärken. Der Green Deal der Kommission unter Frau von der Leyen mit dem wichtigen EU-Natur-Wiederherstellungsgesetz scheitert gegenwärtig sowohl an den radikalen Kräften vor allem von rechts und leider auch an den Konservativen im EU-Parlament. Wenn sich aber diejenigen, die sich besonders auf christliche Werte und die Schöpfung beziehen, der Natur nicht mehr verpflichtet fühlen, gehen wir ganz düsteren Zeiten entgegen. Gott hat mit „sich die Erde Untertan machen“ sicher nicht gemeint, sie sukzessive zu zerstören. Interview: Wolfgang Timpe

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Malte Siegert, 59, ist 1. Vorsitzender des Landesverbands Hamburg im Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) – seit September 2020. Seit 21 Jahren arbeitet er für den NABU auf Bundesebene sowie für den Landesverband Hamburg.

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