Neue Ideen für eine neue Stadt: Kommt fürs Gruner + Jahr-Gelände am Lohsepark ein neuer Investor für Büros oder hat die Stadt die Kraft, in die Lebensqualität seiner Bewohner:innen zu investieren? Eine Realvision
Plus: 3 Fragen an … Michael Richter zu grünem öffentlichem Raum (am Ende)
Wir haben hier keine bleibende Stadt, die kommende suchen wir.“ Dieses Wort aus dem Neuen Testament (Hebräer 13,14) hat die Gemeinde von St. Katharinen nach dem Wiederaufbau der im Kriege zerstörten Kirche 1956 über ihren Turmeingang geschrieben. Als hätten sie gewusst, dass knapp ein halbes Jahrhundert später mit dem Projekt HafenCity genau diese Suche nach der Zukunft unserer Stadt vor den Toren von St. Katharinen immens an Fahrt aufnehmen würde.
Foto oben: Für Autor Frank Engelbrecht können die bisherigen geplanten und ungeplanten Zwischennutzungen im Lohsepark zum Mut für neue Stadtideen motivieren: Auf dieser Fläche haben sich das Spiel der Kinder, das Engagement mit der Natur, die Wildnis eingetragen – also eine Kombination aus Engagement, Teilhabe, Natur und Erlebnispark für Kinder und Jugendliche.© VISUALISIERUNG: NETZWERK HAFENCITY E.V.
Dieser Artikel handelt von einem Baufeld, an dem diese Frage aktuell wieder ganz neu entflammt: die Brache am nördlichen Lohsepark, südlich der Stockmeyerstraße. Hier sollte eigentlich der neue Firmensitz von Gruner + Jahr entstehen, dazu weitere Bürotürme, über 40 Meter hoch. Doch dann erteilte Gruner + Jahr dem Projekt eine Absage. Nun fragt sich: Welche Nutzung soll auf das 14.000 Quadratmeter große Baufeld kommen?
Informationen zur Visualisierung „Wilder Ort“: Der Lohsepark ist heute 44.000 Quadratmeter groß, also 4,4 Hektar. Die Gruner + Jahr-Fläche (das Baufeld 74 nördlich der Kita Sternipark) würde mit ihren 14.000 Quadratmetern den Lohsepark um knapp 1/3 Fläche für grüne Natur- und klimaschonde Nutzung vergrößern. Das große Bild links zeigt keine landschaftsplanerische Gestaltung, sondern illustriert Anmutungen, die sich an schon heute temporären nachbarschafts- und Initiativen-Nutzungen orientiert. Im Vordergrund ist Urban Farming/Gardening illustriert und das Holzhaus steht für einen Bauspielplatz, denn so etwas gibt es zurzeit nicht in erreichbarer Nähe der HafenCity. Und im Bildhintergrund sieht man einen Mountainbike-Track. Er steht für ein Angebot für ältere Kinder/Jugendliche, die nicht mehr so interessiert sind an Rutschen, Schaukeln und Sandkästen, sondern an herausfordernden Aktivitäten in der freien Natur. FE
Kurz zur Geschichte: Dieses Stück Land hat seit Beginn des Projekts HafenCity eine vielfältige Geschichte: Zu Beginn diente es als Parkplatz für Gewerke, die den Stadtteil Stück um Stück nach Osten hin aufbauten. 2014 gelang es der Initiative Kick’n’Plant mit dem Spielhaus HafenCity e.V als Träger und in enger Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und der HafenCity Hamburg GmbH, den ersten Bolzplatz mit Urban Gardening-Abteilung in der HafenCity zu errichten.
Eine Vision für diesen Ort nach vorn entwickeln, die sich nicht von den vorhandenen B-Plänen leiten lässt, sondern von den Impulsen, die die Zwischennutzungen auf der Fläche eingetragen haben.
Dieser Bolzplatz musste Ende 2017 den Kampfmittelräumdienst-Maßnahmen für das Gebäude weichen, das mit der Absage von Gruner + Jahr nun doch nicht gebaut wird. In der Wartezeit seitdem wuchs auf dem Baufeld eine wilde Graslandschaft, auf der sich über die Jahre allerlei Flora und Fauna beheimatete, darunter auch eine seltene Schmetterlingsart. Das alles verschwand, als die Stadt im April 2021 das Feld abmähen ließ und anschließend umpflügte. Zurück blieb bis heute ein Sandacker. Ein trauriger Anblick? Oder ein freies Feld für neue Ideen für die Suche nach der neuen Stadt?
Eine Möglichkeit wäre, zurückzuschauen und an den alten Plänen aus der Vor-Corona-Zeit festzuhalten. Gewiss finden sich neue Nutzungskonzepte, die auf 42 Meter hohe Türme mit 66.000 Quadratmetern Bürofläche und gegebenenfalls Kultur und belebte Erdgeschossflächen passen.
INFO Wer Lust hat, sich einzubringen, im Netzwerk HafenCity oder auch seine Meinung zum Grünen Ort statt Bürobauten äußern mag, kann an unsere Zeitung (redaktion@hafencityzeitung.com) oder ans Netzwerk HafenCity e.V. (buero@netzwerk-hafencity.de) schreiben.
Eine andere Möglichkeit wäre, eine Vision für diesen Ort im Blick nach vorn zu entwickeln, die sich dabei nicht von den vorhandenen B-Plänen leiten lässt, sondern von den Impulsen, welche die geplanten und ungeplanten Zwischennutzungen auf dieser Fläche eingetragen haben: das Spiel der Kinder, das Engagement mit der Natur, die Wildnis, also eine Kombination aus Engagement, Teilhabe, Natur und Erlebnispark für Kinder und Jugendliche.
In diese Richtung gehen die Vorschläge des Bürgervereins der HafenCity. Das Netzwerk HafenCity e.V. schlägt vor, auf eine Bebauung an diesem Ort weitgehend zu verzichten. Auf diesem Wege könnte die Fläche helfen, den Lohsepark zu entlasten, dessen Grenze des Fassungsvermögens schon heute an vielen Tagen erreicht ist. Mehr noch als eine Entlastung könnte dieser Ort eine Erweiterung darstellen, einen „Wilden Ort“, der nicht vorgefertigt bereitsteht, sondern aus dem Zusammenspiel mit denen lebt, die ihn besuchen und nutzen. Eine lebendige Grünfläche für Bürgerinnen und Bürger aus der ganzen Stadt, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Vielfalt von Nutzungen.
Statt Büroräume: Platz für die Natur und für die Menschen, um sich zu erholen, einander zu begegnen, zu diskutieren, gerne auch ein Kulturhaus mit interaktivem Angebot.
Auf den 14.000 Quadratmetern könnten Urban Gardening und Urban Farming Platz finden, dazu ein Bauspielplatz und ein Mountainbike-Track, ein Feld für Badminton, aber auch eine Brache für den vertriebenen Nachtkerzenschwärmer. Kurz: Platz für die Natur und für die Menschen, um sich zu erholen, einander zu begegnen, zu diskutieren, gerne auch ein Kulturhaus mit interaktivem Angebot.
Ist dieser Traum von einem „Wilden Ort“ zu wild gedacht? Als ein HafenCity-Bewohner nach der Gruner + Jahr-Absage einem Bürgerschaftsabgeordneten aus Mitte vorschlug, das freigewordene Baufeld zum Park werden zu lassen, lautete die Antwort: „Schwierig!“ Es stehe doch schon seit dem Jahr 2000 fest, dass hier Büroraum gebaut werden solle. Zudem sei der Verlust an Einnahmen für die Stadt immens. Aber genau diese Argumente könnten doch helfen, das Baufeld mutig neu zu denken. Immerhin befinden wir uns an einem Wendepunkt: hoffentlich bald nach Corona, auf jeden Fall vor den großen Herausforderungen, die sich unter der Überschrift „Klimaschutz“ sammeln.
Um diese Herausforderungen anzugehen, brauchen wir mehr Bürgerengagement, mehr öffentlichen Raum, der Menschen zusammenbringt und aktiviert, mehr Spielflächen für Kinder, damit sie sich in der Stadt bewegen, anstatt hinter ihren Geräten zu verschwinden, dazu mehr Grün und weniger Versiegelung von Flächen. Das alles wäre schon vor 20 Jahren richtig gewesen, als das Gebäude geplant wurde. Heute aber ist das nicht nur vernünftig, sondern dringlich. Und die Kosten? Kurzfristig und betriebswirtschaftlich betrachtet mag die Rechnung richtig sein: Das ist zu teuer. Langfristig und volkswirtschaftlich betrachtet wäre der sogenannte Verlust an Einnahmen eine Investition in die Zukunft der Stadt, der Menschen und der Natur, der sich ohne Zweifel mittel- und langfristig mehr als rechnen wird.
Zudem passt das Konzept eines aktivierenden Parks an der Stockmeyerstraße in die aktuelle Entwicklungslinie der HafenCity, die im Laufe der Jahre sich immer stärker in Richtung Nachhaltigkeit und sozialer Vielfalt entwickelt hat. Erst gab es für neue Gebäude den Gold-Standard, der u.a. zu Energieeffizienz verpflichtet, bis der Gold-Standard zum Platin-Standard verschärft wurde. Die Bürostadt wandelte sich in ein Wohnquartier, der Anteil der Familien wuchs und wächst immer weiter.
Wir sollten hybride Stadtstrukturen zulassen, in denen Wasser, Land und Grün in ein lebendiges Zusammenspiel miteinander kommen.
Und auch die HafenCity Hamburg GmbH selbst ist längst auf diesem Wege. Sie plant, ihren aktuellen Sitz zu verlassen und ihre neue Zentrale als Nullemissionshaus aus Holz und mit begrünter Fassade zu bauen, als Antwort auf „globale klimaökologische Herausforderungen“. Jetzt gilt es auch, im Bereich Grünflächen nachzuziehen. Auch im Vergleich zum Bezirk ist dieser Schritt dran: 4,6 Prozent der Flächen in der HafenCity sind öffentliches Grün. Im Bezirk Mitte sind es im Durchschnitt 14 Prozent. Drei Mal so viel.
Dazu kommen die Kinder. Zu Recht ist der Stadtteil HafenCity stolz darauf, dass hier im Verhältnis zur Einwohnendenzahl mehr Kinder leben als in Eimsbüttel. Jetzt brauchen wir für diese Kinder nur noch mehr öffentliches Grün: zum Spielen und Toben, für das Naturerlebnis. Aber nicht allein die Kinder, auch alle anderen, die die HafenCity besuchen oder hier wohnen und arbeiten profitieren davon, wenn wir das Ideal des Urbanen als Ansammlung von Stein und versiegelten Flächen hinter uns lassen und stattdessen hybride Stadtstrukturen zulassen, in denen Wasser, Land und Grün in ein lebendiges Zusammenspiel miteinander kommen.
Also: Anstatt weiter zu machen, wie seit 20 Jahren geplant, könnte die Brache am Lohsepark sich zu einem Pilotprojekt dafür entwickeln, wie wir im Schulterschluss von Zivilgesellschaft, Behörden und Politik den Mut finden, Stadt nach vorne zu denken. Ein „Wilder Ort“ wie Studierende der HCU und das Netzwerk HafenCity e.V. es vorgeschlagen haben. Grün statt Stein, ein Ort, von dem die Menschen profitieren, die hier leben, lernen, arbeiten – Kinder und Jugendliche und auch die Nachbarschaft aus den benachbarten Stadtteilen: Altstadt, Neustadt, Innenstadt, Hammerbrook, Rothenburgsort, Veddel und gerne auch Touristen.
Ein derartiges Pionier-Projekt stände dem Stadtteil gut zu Gesicht, der sich aufgrund des Drittelmix mit geförderten Wohnungen, Eigentumswohnungen, frei finanzierten Mietwohnungen, Genossenschafts- oder Baugemeinschafts-Projekten inzwischen zu einem sehr vielfältigen Quartier entwickelt hat.
Eine Vielfalt, in der die meisten Menschen sich in einem Punkt treffen: hier leben viele Pioniere, Menschen, die gut damit zurechtkommen, dass beim Einzug die Bürgersteige noch nicht fertig sind – die aber gleichzeitig Lust und auch den Anspruch haben, ihr Viertel mitzugestalten und es lebendig und lebenswert zu machen. Der Bolzplatz, das Urban Gardening, die Freunde des Lohsepark, die Flüchtlingshilfe, alle diese und weitere Graswurzelinitiativen zeigen die Kreativität und Kompetenz im Einsatz der Menschen in der HafenCity für ihr Quartier.
Deshalb ist der Vorschlag des HafenCity Netzwerk e.V. auch nicht aus der Luft gegriffen, sondern gegründet in einer langen Erfahrung von Leben und Engagement vor Ort. Jetzt müssen Politik und Bürgerinnen und Bürger bloß noch miteinander sprechen und einander Mut machen, die alten Zöpfe abzuschneiden, das Neue zu wagen und zu zeigen, dass diese Stadt das Platin nicht nur bei der Wärmedämmung vorantreibt, sondern auch im Dialog mit der Zivilgesellschaft. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, die kommende suchen wir!“ Der Vorschlag des Netzwerk HafenCity e.V. weist die Richtung, in der die Suche am besten geht. Frank Engelbrecht, Pastor an der Hauptkirche St. Katharinen
„3 FRAGEN AN …“ MICHAEL RICHTER* über Anwohner:innen-Vernetzung, urbane Biodiversität und Verdunstungskühlung
*Michael Richter, 37, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung an der HafenCity Universität (HCU). Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf dem Potenzial von städtischem Grün zur Klimawandelanpassung.
1.
14 Prozent des Bezirks Mitte sind öffentliche Grünflächen. In der HafenCity sind es nur 4,6 Prozent. Reicht das aus? Grundsätzlich ist das schon ein sehr geringer Anteil. Und mit der Weiterentwicklung der östlichen HafenCity wird sich der Druck auf die vorhandenen öffentlichen Grünflächen weiter verstärken, denn sowohl Bewohner:innen als auch vor Ort Arbeitende benötigen Grünflächen zur Erholung. Aber es sollte dabei nicht nur auf die Größe der Flächen geschaut werden, sondern auch auf die Qualität des Stadtgrüns. Dabei ist entscheidend wie die Grünflächen gestaltet sind, also ob es „nur“ Rasenflächen mit vereinzelten Bäumen sind oder ob es sich auch um unterschiedliche Flächen hinsichtlich Pflanzen- und Nutzungszusammensetzung handelt. Das ist einerseits wichtig für das Stadtklima und die urbane Biodiversität, andererseits um den Nutzer:innen vielfältige Angebote hinsichtlich ihres Aufenthalts zu bieten. Wünschenswert wäre es auch Grün- oder Freiflächen bereitzustellen, die von Interessierten selbst gestaltet und bewirtschaftet werden können, um die Identifikation mit dem Stadtteil und der Vernetzung unterschiedlicher Gruppen im Stadtteil zu stärken.
2.
Das Grundstück, auf dem Gruner+Jahr nun doch nicht baut, hat 14.000 Quadratmeter. Würde es dem Klima im Quartier helfen, wenn es Park würde, statt mit teilweise über 40 Meter hohen Bürogebäuden bebaut zu werden? Jede unbebaute bzw. nicht versiegelte Fläche hat positive Auswirkungen für das urbane Klima und hilft der Stadt zusätzlich, sich an die unvermeidbaren Folgen des Klimawandels anzupassen. Statt von versiegelten Flächen in die Kanalisation geleitet zu werden, kann Regenwasser vor Ort versickern, so wird das Überflutungsrisiko vermindert und Grünflächen werden auf natürliche Weise bewässert. Außerdem helfen die entstandenen oder zurückgewonnenen Grünflächen durch Verdunstungskühlung die städtische Wärmeinsel zu reduzieren, die vor allem durch die Aufheizung der Bebauung entsteht. Je größer eine Grünfläche ist, desto weiter ist dieser Abkühlungseffekt auch im Umkreis spürbar.
3.
Ein Gutachten der Stadtentwicklungsbehörde kommt zu dem Schluss, dass an der Versmannstraße der geplante Hotelbau neben der weiterführenden Schule die Luftzirkulation beeinträchtigt. Wie wichtig ist Luftaustausch fürs Stadtklima? Gerade in der HafenCity spürt man an einigen nahezu komplett versiegelten und sich somit im Sommer extrem aufheizenden Stellen die fehlende Luftzirkulation. Andererseits gibt es nah der Elbe, an exponierten Lagen oder entlang Ost-West verlaufender Straßen fast immer eine kühle Brise zu spüren, die auch heiße Tage erträglicher macht. Im Herbst und Winter kann die Brise jedoch auch weniger angenehm sein, was viele in der HafenCity lebende und arbeitende Menschen sicher bestätigen können. Grundsätzlich ist es jedoch wichtig, solche klimatischen Auswirkungen von Baumaßnahmen vorher zu untersuchen. Denn in Zukunft wird es noch wichtiger werden, dass ein Luftaustausch im Sommer nicht verhindert wird, damit kühlere Luft etwa von der Elbe oder von Grünflächen in den Stadtteil hinein transportiert wird. Ein Pluspunkt, den die HafenCity auch stadtklimatisch gegenüber anderen Stadtteilen hat, sind die sie umgebenden Wasserflächen. Und diese könnten in Kombination mit größeren und kleineren Grünflächen und begrünten Straßenzügen zukünftig ein Netzwerk aus stadtklimatisch aktiven Flächen bilden und so die Aufenthaltsqualität verbessern. Die Fragen stellte Frank Engelbrecht