Gastkommentar von Prof. Jörg Müller-Lietzkow, Präsident der HafenCity Universität (HCU)
Wenn mich vor gut fünf Jahren jemand gefragt hätte: Brauchen wir eine Wagenknecht-Partei? Ich hätte gesagt: Wir brauchen eine funktionierende Demokratie und keine weiteren Parteien, insbesondere die AfD braucht es gar nicht. Warum also noch eine linke Partei? An der Grundhaltung hat sich nichts geändert, die demokratische Mitte ist meine Heimat. Doch in den fünf Jahren hatten wir eine globale Pandemie, zwei Kriege, Umweltkatastrophen (Ahrtal und mehr), eine Wirtschaftskrise (Folge der Kriege, der Pandemie und der nicht mehr funktionsfähigen Lieferketten), explodierende Bau- und Wohnungskosten, einen grundlegenden Regierungswechsel und nicht zuletzt ein Erstarken der rechten Flanke. Wahlen führen inzwischen zu nahezu absurden Ergebnissen für die AfD, und die mir vertraute Mitte ist kaum wiederzuerkennen, sie ringt um eine politische Zukunft.
Foto oben: Jörg Müller-Lietzkow, Präsident der HCU: „Die Wagenknecht-Partei darf kein Verliererspiel für die Demokratie werden.“ © Catrin-Anja Eichinger
In diesen Zeiten sortiert sich das System komplett neu. Ich höre von vielen Bekannten, „Nein, die AfD wähle ich nicht, aber …“ oder auch, dass man „sehr unzufrieden“ ist mit der Berliner Politik. In dieser Zeit suchen Menschen nach anderen Antworten und neuen Stabilitätsversprechen, denn die Verunsicherung, Wut und Zukunftsangst nehmen zu. Hier nun eine vermeintlich heilsbringende neue Partei zu gründen bietet – rational betrachtet – mit dem verfolgten Ansatz eine Chance, ein politisches Geschäftsmodell zu werden, das sicherlich aus Sicht der betroffenen Akteurinnen und Akteure wohlkalkuliert ist. Vor dem Hintergrund würde vieles für ein Kalkül sprechen. Zumal die in der Premieren-Pressekonferenz vom 23. Oktober 2023 adressierten Ziele zur Gründung des Vereins Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als Vorbote der neuen Partei verlockend einfach klingen.
Doch – und da setzt das Wagnis ein – was bedeutet die weitere Parteien-Zerklüftung für eine Demokratie, für unser Land? Man bedenke, dass Wahlerfolge der einen immer nur über Misserfolge der anderen zu erreichen sind. Und was, wenn nur noch politische Bündnisse in merkwürdigen Konstellationen zu notwendigen Mehrheiten führen? Die Gründung der Wagenknecht-Partei, die bis dato sehr wenig über ihre wahre Agenda kundgetan hat, kann mit zwei Szenarien enden: Entweder die Partei spaltet das linke Lager, aber am Ende bleibt für Die Linke wie auch die neue Partei zu wenig für den Einzug in die Parlamente; oder, und dann wird das Spiel zum Wagnis für die Demokratie, die neue Partei zieht ebenso stark wie die in Teilen rechtsextreme AfD. Quo vadis Demokratie, kann ich da nur fragen? Quintessenz: Die Gründung der Partei ist ganz klar ein Kalkül, aber das Wagnis, mit der Demokratie zu spielen, ist durchaus ein sehr großes. Man kann nur allen wünschen, dass dies nicht zu einem Verliererspiel für uns alle wird. Jörg Müller-Lietzkow
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Prof. Jörg Müller-Lietzkow ist Präsident der HafenCity Universität Hamburg (HCU)