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Nicht jedes Tier ist eine Bedrohung

Kolumne. HafenCity-Zeitung-Autor und Kolumnist Jan Ehlert in seiner Kolumne No. 69 »Literatur zur Lage« im August 2023. 

Hans Blumenberg traut seinen Augen nicht. Auch wenn er sein Leben hauptsächlich mit Büchern verbringt: Tiere in freier Wildbahn hat er bereits viele gesehen. Aber jetzt ist er erschüttert: „Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her.“
Foto oben: Statt in Angst zu erstarren, hilft es daher oft, genauer hinzuschauen. So mancher Löwe wird dann schnell zur Wildsau. Und auch so mancher Mensch plötzlich viel menschlicher. © Julia Marie Werner

Es war die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die Blumenberg in ihrem gleichnamigen Roman 2011 mit einem Löwen konfrontierte, der es sich plötzlich in seinem Wohnzimmer bequem machte. Ein wunderbares Buch über die Philosophie und über die Frage, was wir wirklich sehen. Ihr Protagonist Blumenberg kommt dabei recht schnell darüber hinweg, dass es nun einen Löwen in seinem Leben gibt. So wie die Bewohner von Kleinmachnow vermutlich schnell darüber hinwegkommen, dass ihr Löwe, der Mitte Juli für zwei Tage in dem Ort sein Unwesen trieb, am Ende doch keiner gewesen ist. 

»Und der Ritter in schnellem Lauf / Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger / Mit festem Schritte« 
Friedrich Schiller im Gedicht »Der Handschuh« über Ritter Delorges im Löwengarten, 1798

Auch in Hamburg wurden schon Löwen jenseits von Hagenbeck gesichtet. Hier im Hafen bereits seit 22 Jahren, im Musical „Der König der Löwen“. Oder auch mitten in der HafenCity, dank des tollen Fotoprojekts von Julia Marie Werner. Daher ein Tipp, wie man eine solche Begegnung unbeschadet übersteht, von Friedrich Schiller: „Und der Ritter in schnellem Lauf / Steigt hinab in den furchtbarn Zwinger / Mit festem Schritte“ lesen wir in seinem Gedicht „Der Handschuh“ über Ritter Delorges im Löwengarten.

Solche Gärten sind selten geworden. Unsere Angst vor einer ungezähmten Natur nimmt aber zu, je mehr wir diese Natur aus unserem Alltag verdrängen. Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat darüber einen wunderbaren Roman geschrieben, mit dem weniger wunderbaren Titel „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, in dem ein Wolf durch das winterliche Deutschland zieht. Ein Tier, das nicht zuletzt wegen der Grimmschen Märchen bei uns nicht den besten Ruf besitzt. Umgekehrt zeigen Horrorromane, wie etwa „Cujo“ von Stephen King, dass auch unsere vermeintlich harmlosen Haustiere eine archaische Seite haben. Und wer noch die Brückenspinnen in der HafenCity kennt, der weiß, dass Tiere nicht einmal gefährlich sein müssen, um Angst zu verbreiten.

Die Natur, sie bleibt uns fremd, weil wir uns ihr entfremdet haben. Hans Blumenberg hingegen, der Held aus Lewitscharoffs Roman, schließt zuletzt Frieden mit seinem Löwen. Denn nicht jedes Tier ist eine Bedrohung für uns, nur weil es gefährlich aussieht oder besonders laut brüllt. Statt in Angst zu erstarren, hilft es daher oft, genauer hinzuschauen. So mancher Löwe wird dann schnell zur Wildsau. Und auch so mancher Mensch plötzlich viel menschlicher. 

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