Offene Orte der Geborgenheit

Unser Kolumnist und Autor Jan Ehlert hat sich mit seiner Kolumne „Literatur zur Lage im Juni ’22 – #55“ dem Alkohol und Antonio „Toni“ Fabrizi, Inhaber Club 20457, gewidmet

Der Hamburger Dichter Wolfgang Borchert wusste genau, wo es in seiner Heimatstadt nach Sonnenuntergang am schönsten ist: „In Hamburg wohnt die Nacht / in allen Hafenschänken“, schrieb er, „wenn es auf schmalen Bänken / sich liebt und lacht“. Das Gedicht veröffentlichte Borchert 1946. Lang ist das her, doch in einer Bar in der HafenCity wird nachts noch immer geliebt und gelacht – und das seit mittlerweile zehn Jahren. Ein Glück für die HafenCity, dass es diesen Club 20457 dort gibt.
Foto oben: La Bodeguita del Medio, Havanna, Kuba, wo Ernest Hemingway seinen Erfolg vertrank: „Seht ihn an, den Dichter / Trinkt er, wird er schlichter“, warnte schon Robert Gernhardt vor den „Folgen der Trunksucht“. © picture alliance/NurPhoto | Nicolas Economou

Nicht nur für Borchert: Bars, Schänken und Kneipen sind vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern gute Begleiter gewesen. Legendär ist die Bodeguita del Medio in Kuba, in der Ernest Hemingway seinen Erfolg vertrank und in der auch Pablo Neruda, ein anderer Nobelpreisträger, regelmäßig zu Gast war. Für ihre Texte war das vermutlich eher schlecht: „Seht ihn an, den Dichter / Trinkt er, wird er schlichter“, warnte schon Robert Gernhardt vor den „Folgen der Trunksucht“. Und auch das 20457 hat einige Alkoholabstürze mit angesehen.

„Die Matrosen kommen, gehen / Alles lebt vom Wiedersehen / Ein gegangener Gast sehnt sich zurück“ 
Ringelnatz

Kolumnist Jan Ehlert zitiert den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert in Bezug zum Corona-Lockdown: Die Tür schließt sich hinter ihm und nun, so Borchert, „hatte man mich mit dem Wesen allein gelassen, nein, nicht nur allein gelassen, zusammen eingesperrt, vor dem ich am meisten Angst habe: Mit mir selbst“. © Privat
La Bodeguita del Medio, Havanna, Kuba, wo Ernest Hemingway seinen Erfolg vertrank: „Seht ihn an, den Dichter / Trinkt er, wird er schlichter“, warnte schon Robert Gernhardt vor den „Folgen der Trunksucht“. © Privat

Und doch: Eine Bar kann ein Ankerpunkt sein, ein Hafen für die Menschen, die zuallererst nicht Getränke, sondern Gemeinschaft suchen. Zum Beispiel das „Dickens“, in J. R. Moehringers wunderbarem Roman „Tender Bar“, in dem ein kleiner Junge in einer Bar aufwächst und von den Kneipenbesuchern sehr viel fürs Leben lernt. Oder „Bei Hertha“, dem Ort in den „Känguru-Chroniken“ von Marc-Uwe Kling, an dem Revolutionen geplant und vergessen werden – Freundschaft und Solidarität aber Dauergäste sind. Und als Gregor Sander für sein Ost-West-Buch „Lenin auf Schalke“ nach Gelsenkirchen reist, da ist es die Kneipe, in die es ihn zieht und in der er die Menschen zu verstehen beginnt. 

Solche Orte sind selten – und in einer Zeit, in der die Welt um uns herum immer unsicherer zu werden scheint, braucht es sie umso mehr: die offenen Orte der Geborgenheit. Für die HafenCity ist der Club 20457 solch ein Ort. Hier sind Freundschaften entstanden, hier wurde aber mit Benefizlesungen und Karaokekonzerten für diejenigen gesammelt, die im Schatten der Gesellschaft stehen. Eine offene Tür und ein offenes Herz – das zeichnet das Team aus.

„Die Matrosen kommen, gehen / Alles lebt vom Wiedersehen / Ein gegangener Gast sehnt sich zurück“, schrieb Ringelnatz über die Hafenkneipen. Und während ich dies schreibe, sehne ich mich auch zurück nach dem Club 20457. Nach der Gemeinschaft und dem Gefühl des Ankommens – in der HafenCity, aber irgendwie auch bei mir selbst. Daher: Alles Gute zum Zehnjährigen und schön, dass es euch gibt.

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JAN EHLERT lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine Kolumne „Literatur zur Lage“. © Privat

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