Vorfreude auf den Sommer. Die HafenCity-Kuratorin Ellen Blumenstein über urbane Kunst, engagierte Bewohner:innen und das Projekt „The Gate. Wohin führt das Tor zur Welt“
Frau Blumenstein, Sie sind seit 2017 Kuratorin für die künstlerische Begleitung der Stadtentwicklung in der HafenCity. Was macht eine Kuratorin? Zuerst einmal muss man wissen, dass der Begriff der Kuratorin oder des Kurators nicht geschützt ist. Jeder kann sich als Kurator bezeichnen, das hat dazu geführt, dass sich diese Tätigkeit inflationär ausgebreitet hat. Sie können ein Nike-Sportgeschäft kuratieren, aber auch die Sammlung eines Museums. Und daher kommt der Begriff ursprünglich. Curare kommt aus dem Lateinischen und bedeudet „sorgen, sich kümmern“. Das heißt, die Kuratorin war lange Zeit diejenige, die sich um die Sammlung, die Kunstwerke kümmert. In den Sechzigerjahren hat der Begriff dann eine Weiterentwicklung und Öffnung erfahren, weil seitdem Kunst nicht nur gesammelt, sondern aktuelle Kunst auch produziert und in Auftrag gegeben wird.
Foto oben: HafenCity-Kuratorin Ellen Blumenstein: „Ich mag Orte, die ihren Zweck noch nicht gefunden haben, zum Beispiel die Elbarkaden sind völlig dysfunktional, ein Un-Ort. Das mag ich, weil es meine Fantasie anregt, neue Nutzungen für diesen Ort zu erfinden.“ © Thomas Hampel
Was macht eine Kuratorin in der HafenCity? Wenn man sich in der Kunst mit Themen beschäftigt, die viele Menschen betreffen, ist das Potenzial größer, Menschen zu inspirieren, sich mit Kunst und künstlerischen Fragen auseinanderzusetzen. Das versuche ich in der HafenCity. Ich möchte Geschichten erzählen, die mit der HafenCity verknüpft sind und die Menschen Zugänge in die HafenCity erleichtern – und zwar sowohl für diejenigen, die schon hier leben und arbeiten, als auch für Besucher des Stadtteils. Es gibt hier schon ikonische Fixpunkte wie die Elbphilharmonie oder das Internationale Maritime Museum, ich aber möchte die Stadt selbst in den Fokus nehmen.
Zum Beispiel? Etwa unsere aktuelle Installation mit dem Titel „Backdrop“, die wir mit dem Hamburger Künstler Gerrit Frohne-Brinkmann in der Tiefgarage des Pierdrei-Hotels am Sandtorkai realisiert haben. Der Künstler setzt sich dabei mit dem Leben unter Wasser, unterhalb des Meeresspiegels auseinander, das wir normalerwiese nicht sehen, weil es unterhalb der Oberfläche und unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten liegt.
Ellen Blumenstein arbeitet seit August 2017 als Kuratorin der HafenCity. Sie entwickelt Strategien und konkrete Kunst- und Kulturprojekte für den jungen Stadtteil am Wasser. Blumenstein will u.a. dafür sorgen, dass künstlerische Perspektiven aktiv und frühzeitig in Stadtplanungsprozesse einbezogen werden. Dazu führt sie u.a. das experimentelle Kulturprogramm „Imagine The City“ an der Shanghaiallee. In der HafenCity initiierte die studierte Literatur-, Musik- und Medienwissenschaftlerin aus Witzenhausen bei Kassel erfolgreiche Projekte wie den Digi-„Smiley“ an der Kibbelstegbrücke und die „Bienen-Kapelle“ des international bekannten Künstlers Terence Koh an der Magdeburger Brücke.
Viele in der HafenCity wissen nichts von Ihren Projekten. Wie machen Sie solche Aktionen bekannt? Wir sind klein und müssen wachsen und haben ein sehr begrenztes Budget. Deshalb sind Gespräche mit den Medien wie jetzt mit Ihnen, persönliche Gespräche mit Anwohnern, mit Multiplikatoren, Unternehmern und Politikern wichtig. Und jeder, der sich für unsere Projekte interessiert, sollte unseren „Imagine the City“-Newsletter unter https://imaginethecity.de abonnieren.
Was heißt „Imagine the City“? Sollen wir uns eine andere, bessere Stadt vorstellen? Ja, auch. „Imagine the City“ versucht aber auch zu zeigen, dass eine Stadt immer zwei Elemente hat: Zum einen das, was real gebaut worden ist; zum anderen das, was Menschen sich von ihrer Stadt wünschen und wie sie ihre Stadt wahrnehmen. Ich betrachte es als die Aufgabe von Kultur, die Wünsche, Bilder und Geschichten der Menschen sichtbar zu machen und ihnen Raum zu geben. Imaginieren bedeutet, all dem, was nicht materiell ausgedrückt werden kann, Anerkennung zu verschaffen und Gewicht zu geben.
Sie sind von der HafenCity Hamburg GmbH für diese Kulturarbeit engagiert worden. Was treibt eine international tätige Kuratorin in die kleine HafenCity? Die Vision und der Ehrgeiz, dass Kultur und Stadtentwicklung gemeinsam gedacht werden. So stand es damals in der Stellenausschreibung, das hat mich sofort fasziniert. Insofern hat unser kleines Pilotprojekt eine internationale Tragweite, weil das, was wir machen von einem anderen Ansatz ausgeht als etwa Kunst im öffentlichen Raum. Eine Skulptur an einem öffentlichen Platz kann nur Menschen berühren, die schon wissen, was sie mit einer Skulptur anfangen sollen. Kultur als Bestandteil von Stadtentwicklung – im besten Sinne funktional – mit zu denken, ist ein völlig neuer Ansatz.
Ihr populärstes Projekt war die „Bee Chapel HafenCity“, die Bienen-Kapelle-Installation des Künstlers Terence Koh. Wie sehen Sie seine Arbeit in der HafenCity in der Rückschau? Ich freue mich total, dass Sie „Bee Chapel“ als populärstes Projekt nennen, weil es das erste Projekt gewesen ist, das wir mit einem Künstler vor Ort neu entwickelt haben.
Wann ist für Sie ein Projekt besonders erfolgreich? Die Bienenkapelle war erfolgreich, weil sie als Kunst wie als sozialer Ort funktioniert und darüber hinaus ganz verschiedene Menschen angesprochen hat. Terence Koh hat als international renommierter Künstler den Freundeskreis der Hamburger Kunsthalle genauso angezogen wie die Mitarbeiter umliegender Büros, die sich für Kunst normalerweise nicht interessieren, aber dennoch jeden Tag vorbeigeschaut haben.
Ein zweites aufsehenerregendes Projekt war der digitale Smiley an der Kibbelsteg-Brücke in der Speicherstadt. Der lächelte häufig dann, wenn es regnete. Das hat viele irritiert. Muss Kunst irritieren? Ja, Kunst sollte irritieren und sie soll einen aus dem Alltagstrott herausholen. Sie soll neue Perspektiven aufzeigen. Damit ist nicht gemeint, dass sie um jeden Preis Missstände in der Gesellschaft anprangern soll. Es ist viel wichtiger, Sichtweisen einen Raum zu geben, die keine Lobby haben und nicht der herrschenden Meinung entsprechen. Das Lächeln des Smileys wurde natürlich von einem Algorithmus gesteuert, denen Momentaufnahmen von Gesichtern zugrunde liegen. Dass dabei ein Lächeln bei Regen herauskam, war mehr oder weniger Zufall.
Sie planen für den Sommer 2021 eine große Kunstinstallation in der Innenstadt/HafenCity. Was planen Sie? Wir eröffnen am 3. Juni für fünf Monate einen Parcours, der dem Hamburger Slogan „Tor zur Welt“ folgt und das Quartier zwischen Baumwall und Elbbrücken erkundet. Das Projekt heißt „The Gate. Wohin führt das Tor zur Welt?“ und besteht aus zwei Teilen: einem Kunst- und einem Audio-Parcours. Wir bringen zwei unterschiedliche Weisen, sich der HafenCity zu nähern, in einer Art Stadt-Safari zusammen. Der Kunst-Parcours spürt die verschiedenen Deutungsebenen der Metapher vom „Tor“ auf, zum Beispiel die Handelsgeschichte zunächst innerhalb Europas und später auch nach Übersee, die Auswandererwelle im 19. Jahrhundert und als Willkommens- und Hoffnungsort für Zuwanderer aus allen Richtungen. In einer App werden diese Erzählungen durch verschiedene Audio-Stationen ergänzt, die sich mit der HafenCity beschäftigt. Das Projekt ist unsere erste große deutschlandweite Kooperation, eine Förderung von der Kulturstiftung des Bundes, in der wir mit der Kestner Gesellschaft in Hannover, mit dem MARTA Herford und dem Museum Gegenwartskunst Siegen zusammenarbeiten. Für die App entwickeln unsere Digitalpartner Tools auf Open-Source-Basis, die später von anderen Kulturinstitutionen weitergenutzt werden können.
Wie muss ich mir die Stadt-Safari vorstellen? Gibt es Kunstprojekte oder Installationen? Ja¸ es sind inzwischen rund 15 Neuproduktionen und einige bereits existierende Arbeiten, mit denen wir Erfahrungen ermöglichen wollen, die Besucher:innen auf ganz unterschiedliche Weise durch die HafenCity führen. Am Baumwall werden zum Bespiel zwei sechs Meter hohe Wächter:innen stehen, die den Eingang in den Stadtteil bewachen. Ein Video-Hologramm in einem Hotelzimmer des Pierdrei Hotels erzählt von sogenannten Content Managern für Videoplattformen, die den Übergang zwischen der echten Welt und dem virtuellen Raum bewachen. Auf der Kornhausbrücke wird sich eine Intervention mit der Bedeutung von Kolumbus und Vasco da Gama für die Handelsgeschichte beschäftigen. An den Elbbrücken kann das Publikum nach Kalifornien springen, um ein gescheitertes Stadtentwicklungsprojekt in der Wüste nahe Los Angeles virtuell zu besuchen. Außerdem bespielen wir zwei Kioske der Hochbahn und vieles mehr.
Sie sind gebürtige Kasselerin und dort u.a. mit der weltweiten zeitgenössischen Kunstmarke documenta aufgewachsen. Wie und wann hat Kunst Sie das erste Mal berührt? Auf der documenta X 1997, als ich für mein Journalistik-Studium in Hamburg ein Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit brauchte und so schließlich ein ganzes Jahr im Pressebüro verbrachte. Danach wollte ich keine Journalistin mehr werden, sondern in der Kunst bleiben. Das war eine lebensverändernde Erfahrung.
Welche Kunst hat sie damals berührt? Das war noch früher, bei der documenta X, 1992, als ich mit meinem Kunstkurs die Ausstellung besuchte. Damals hat mich eine Arbeit fasziniert, von der ich erst Jahre später erfahren habe, dass sie vom berühmten US-Installationskünstler Bruce Nauman stammt und sich heute übrigens im Besitz der Hamburger Kunsthalle befindet. Das war ein Raum mit mehreren Bildschirmen, auf denen sich ein Kopf im Kreis drehte und unter anderem immer wieder „Help me“ rief. Das hat mich berührt, weil es der Bedürftigkeit eines Menschen einen Ausdruck gab und für das Angewiesensein auf andere.
Sie haben Ausstellungen in Graz, São Paulo, Lissabon oder in Venedig auf der Biennale den isländischen Pavillon kuratiert. Welche Erfahrungen helfen Ihnen bei der Arbeit in Hamburg? In gewisser Weise hat mich nichts auf meine Arbeit in der HafenCity vorbereitet. In der HafenCity lerne ich mein Fach noch mal ganz neu. Das begeistert mich, weil ich nicht mein Leben lang etwas machen möchte, was ich schon kann oder kenne.
Wie geht es Kunst und Kultur in Pandemie-Zeiten? Ist sie wichtiger geworden, weil sie weniger wahrgenommen werden kann? Da wir im öffentlichen Raum arbeiten, gehören wir zu denjenigen, deren Arbeitsfeld nicht geschlossen werden musste. Das bestätigt meinen Ansatz, dass Kultur in die Zivilgesellschaft gehört. Denn obwohl Kultureinrichtungen in den vergangenen Jahren immer stärker auf Vermittlung gesetzt haben, ist die Diversität der Besucher nicht gewachsen. Die Pandemie zwingt uns, neu darüber nachzudenken, wie Kulturinstitutionen funktionieren sollen. Der virtuelle Raum wird auf Dauer jedenfalls nicht die kulturelle Erfahrung ersetzen können, weil das immer etwas mit Begegnung von Menschen in Räumen zu tun hat. Meine Befürchtung ist, dass, wenn Corona vorbei ist, viele Menschen die Kulturinstitutionen nicht vermisst haben werden.
Der deutsche Surrealist Max Ernst sagte: „Kunst hat nichts mit Geschmack zu tun.“ Stimmt das? Ja und nein. Kunst hat immer etwas mit Geschmack zu tun, weil sie dem Zeitgeist unterworfen ist. Max Ernst hat aber auch recht, weil es nichts mit Geschmack zu tun hat, wenn Kunst es in selten Fällen vermag, Menschen zu berühren.
Den größtmöglichen Gegensatz formulierte Winston Churchill: „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird.“ Ist Kunst Lebenshilfe oder Überlebensdroge? Kunst ist Überlebenshilfe.
Picasso formulierte: „Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten.“ Stimmen Sie zu? Nein, ich würde eher sagen: Wenn ich wüsste, was Kunst ist, müsste ich keine Kunst machen. Als Kuratorin mache ich zwar keine Kunst, aber ich ermögliche sie – hoffentlich. Nichts ist uninteressanter als Dinge zu wiederholen, die man schon kennt und von denen man schon weiß, wie man sie findet. Kunst ist dafür da, dem Raum zu geben, was man nicht planen kann.
Wo fühlen Sie sich in der HafenCity wohl? Ich mag den Lohsepark sehr, weil er von sehr unterschiedlichen Menschen genutzt wird. Von Kita-Kindern mit ihren Erziehern oder Eltern; Studierenden und Arbeitenden, die dort ihre Mittagspause verbringen; Besuchern des Gedenkorts und anderen. Das ist nicht immer so in der HafenCity: Besucher der Elbphilharmonie-Plaza zum Beispiel tauchen eher selten in das Stadtteil-Leben ein. Dann mag ich Orte, die ihren Zweck noch nicht gefunden haben, zum Beispiel die Elbarkaden sind völlig dysfunktional, ein Un-Ort. Das mag ich, weil es meine Fantasie anregt, neue Nutzungen für diesen Ort zu erfinden.
Sie kuratieren bislang ausschließlich temporäre Kunstprojekte. Hat Kunst ein Verfallsdatum? Ich finde, man muss nicht alles auf Dauer anlegen, irgendwann würde es auch schlichtweg zu voll werden in der Stadt. Es können nicht überall in der Gegend Werke herumstehen oder -hängen. Es hat aber auch ganz praktische finanzielle Gründe, warum wir temporär arbeiten. Ich halte es grundsätzlich für durchaus wichtig, Fassaden und Plätze in der HafenCity auch dauerhaft gestalterisch mitzudenken.
Wir begehen dieses Jahr das zweite Osterfest in Pandemie-Zeiten. Wie stehen Sie zur christlichen Wiederauferstehung? Jeder, der behauptet, nichts mit dem Christentum zu tun zu haben, hat nicht verstanden, dass unsere Gesellschaft auf dem christlichen Erbe aufliegt. Und Kunst in unserem westlichen Sinne lässt sich überhaupt nur aus dem christlichen Verhältnis zu Bildern denken. Insofern macht es für mich absolut Sinn, inne zu halten und der Frage nach Erlösung Raum zu geben. Ostern erinnert uns an die Frage, was uns zusammenhält und das Leben lebendig macht. Das Gespräch führte Wolfgang Timpe