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»Zu sicher wähnen dürfen wir uns nicht!«

Die HCZ-Kolumne »Literatur zur Lage« von Jan Ehlert

Kolumnist Jan Ehlert zitiert den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert in Bezug zum Corona-Lockdown: Die Tür schließt sich hinter ihm und nun, so Borchert, „hatte man mich mit dem Wesen allein gelassen, nein, nicht nur allein gelassen, zusammen eingesperrt, vor dem ich am meisten Angst habe: Mit mir selbst“. © Privat
HCZ-Kolumnist Jan Ehlert. © Privat

Tausende waren auf die Straße gegangen, um gegen die Nationalsozialisten zu demonstrieren. Ein starkes Zeichen, da waren sich alle einig. Fast alle: „Wie verlachten sie mich, als ich meine Sorge andeutete“, schreibt Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt von gestern“: „Ob ich denn nicht wisse, daß die ganze österreichische Bevölkerung jetzt hundertprozentig hinter (dem demokratischen Kanzler) Schuschnigg stünde?“
Foto oben: Köln, 21. Januar 2024. Über 70.000 Kölner:innen demonstrierten unter dem Motto „Köln stellt sich quer“ gegen Rechts, und ­Plakate wie „Demokratie beschützen, AfD bekämpfen“ oder „Kein Kölsch für Nazis“ prägten die Kundgebung. © picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Es sind erschreckende Parallelen, die man entdeckt, wenn man diesen Text aus dem Jahr 1942 heute wieder liest. Stefan Zweig verfasste ihn bereits im Exil. Scharfsichtig beschreibt er darin, wie lange die Demokraten Hitler und die Nationalsozialisten unterschätzt hatten: „Sie versuchten trotz allem in dem Wahn zu beharren, man könne mit Hitler verhandeln, wenn man nur vernünftig mit ihm rede. Sie konnten oder wollten nicht wahrhaben, daß neben ihnen eine neue Technik der bewußten zynischen Amoralität sich aufbaute.“ 

Auch wenn die AfD natürlich nicht mit den Nationalsozialisten gleichzusetzen ist: Die Technik der bewussten zynischen Amoralität macht auch sie sich zunutze. Und spätestens seit den Enthüllungen des Rechercheverbunds Correctiv über das, was im Landhaus Adlon besprochen wurde, kann niemand mehr sagen: Wir haben es nicht gewusst. 

Die Tatsache, dass bundesweit Hunderttausende jetzt für die Demokratie auf die Straße gegangen sind, ist daher ein groß­artiges, ein überfälliges Zeichen, das Mut macht. Aber das eben nicht nur ein Zeichen bleiben darf. Lauschen wir noch einmal dem Skeptiker Stefan Zweig: „Ich hatte zuviel Geschichte gelernt und geschrieben, um nicht zu wissen, daß die große Masse immer sofort zu der Seite hinüberrollt, wo die Schwerkraft der momentanen Macht liegt.“ Zu sicher wähnen dürfen wir uns also auch nach diesem starken Bekenntnis zur Demokratie nicht. Denn wenn wir eines aus der Geschichte lernen können, dann das: Was einmal geschehen ist, kann erneut geschehen.

Gerade weil wir das wissen, müssen wir uns nun auch nach diesen Demonstrationen weiter einsetzen für die Demokratie und ihre Freiheiten. Auf der Straße, auf der Arbeit, im Freundes- und Familienkreis. Beispiele dafür finden wir ebenfalls in der Literatur: Bei Hans Fallada („Jeder stirbt für sich allein“), Simone de Beauvoir („Das Blut der anderen“) oder eben Stefan Zweig lesen wir, wie Menschen mit ihrem Einsatz für andere ihr Leben riskieren. Wir riskieren bis jetzt zum Glück nur wenig. Aber es liegt an uns, jetzt dafür zu sorgen, dass das auch in Zukunft so bleibt.

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Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine ­Kolumne »Literatur zur Lage«. © Privat

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