Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit über Jugendliche, Livestreams und Rothenburgsort
Frau Veit, was ist die wichtigste Aufgabe der Bürgerschaftspräsidentin? Die wichtigste Aufgabe: Das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie sicherstellen und die Hamburgerinnen und Hamburger bestmöglich einbeziehen. Wir unterliegen in unserer Arbeit in der Hamburgischen Bürgerschaft einem ständigen Wandel und müssen uns immer wieder neu damit beschäftigen, wie wir die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Ein Beispiel: Dass zurzeit jede Woche vor dem Rathaus die „Fridays for Future“-Demonstrationen stattfinden, bewegt mich und viele andere schon sehr. Natürlich ist die Frage, wie wir in einen nachhaltigen Dialog mit den Schülerinnen und Schülern kommen. Deshalb habe ich die Jugendlichen auch ins Rathaus eingeladen und alle Fraktionen haben mit ihnen diskutiert. Und natürlich gehört es zu meinen Aufgaben, Plenarsitzungen zu leiten, das Parlament nach außen zu vertreten und mit meinen gut 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für reibungslose Arbeitsabläufe zu sorgen.
Foto oben: Carola Veit unterstützt transparente Mitbestimmung: „Bürgerforen zwingen Politik und Behörden dazu, gut zu erklären, warum etwas nicht oder anders oder später kommt, oder warum es noch einmal neu gedacht werden muss. Nichts ist fertig.“ ©Wolfgang Timpe
VITA
Carola Veit ist seit 2011 Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, der sie als Abgeodnete der SPD seit März 2004 angehört. Die 46-Jährige absolvierte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin, studierte Rechtswissenschaften und beendete ihr Referendariat mit dem zweiten Staatsexamen beim Hanseatischen Oberlandesgericht. Sie trat 1991 in die SPD ein, ist seit 2006 Vorsitzende des SPD-Distrikts Rothenburgsort und zurzeit stellvertretende Kreisvorsitzende der SPD Hambrg-Mitte. Carola Veit hat mit ihrem Lebenspartner drei Kinder.
Inwiefern? Die Zahl der Fraktionen hat sich stetig erhöht, was neue Aufgaben und Herausforderungen mit sich bringt. Die Digitalisierung fordert von uns schnelleres Reagieren und neue Formen der Kommunikation für die parlamentarische Arbeit und in der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern. Glücklicherweise zögern sie genauso wenig wie Interessenvertreterinnen und -vertreter oder auch die Medien nicht, an uns heranzutreten mit Fragen, Kritik und Ideen: Wir müssen mit der Zeit gehen. Heute haben wir in der Bürgerschaft Formate im Angebot, die es vor zehn Jahren nicht gab. Diese neuen Dinge zu entwickeln und umzusetzen macht großen Spaß.
Was ist Ihnen da besonders wichtig? Die Aufgabe, dass wir als Bürgerschaft noch dichter an die Bürgerinnen und Bürger heranrücken. Wir wollen die Menschen für unsere Arbeit, zum Beispiel auch die Sitzungen im Rathaus, interessieren. Kinder und Jugendliche liegen mir besonders am Herzen. Das ist eine Aufgabe, die großen Spaß macht und die sich lohnt. In der Zusammenarbeit mit Schulen, Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern kann man ganz viel bewegen. Wir müssen einerseits Politik erklären und andererseits aber auch Lust auf Politik machen.
Wie gehen Sie vor? Eines unserer erfolgreichsten Formate sind zum Beispiel die Kinder-Rathausführungen mit jährlich rund 12.000 Mädchen und Jungen, unsere Hörspiel-Reihe „Die Alster-Detektive“ mit den Juniorermittlern Koko, Lukas, Marek und Johanna und ihrem inzwischen sechsten Fall „Langfinger-Alarm“, praxistauglichen Unterrichtsmaterialien oder unsere Pixi-Bücher „Ich hab eine Freundin, die ist Abgeordnete“ für die ganz Kleinen. Es gibt „Jugend debattiert“, „Jugend im Parlament“ und Besuche von Abgeordneten an Schulen. Wir versuchen unterschiedliche Gruppen individuell anzusprechen. Zur diesjährigen Europawahl sind wir zum Beispiel erstmals in Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren gegangen. Das finde ich total sinnvoll, weil wir für diese Gruppe bislang keine speziellen Angebote hatten.
Wer sind wir? Das ist die gesamte Bürgerschaft, wobei mein Team häufig Ideen, zum Beispiel auch für Veranstaltungen, entwickelt, die dann in Absprache mit den Fraktionen ausprobiert und umgesetzt werden. Ich kann die Abgeordneten ja nicht in die Schulen schicken, sondern sie müssen schon selbst davon überzeugt sein. Wichtig ist mir zudem, dass moderne zeitgemäße Kommunikationsformen auch in der Hamburgischen Bürgerschaft stattfinden, was übrigens nicht in allen Landesparlamenten selbstverständlich ist. Inzwischen können Sie nicht nur die Bürgerschaftssitzungen im Livestream auf unterschiedlichsten Medienkanälen verfolgen, egal, wo Sie sich gerade befinden. Sie finden auch alle Debatten und Sitzungen in einer Mediathek und können dort auch nach Themen und Abgeordneten suchen. Das ist eine wichtige audiovisuelle Ergänzung zu den klassischen Protokollen der Bürgerschaft, die es schon immer gibt. Das ist ein bedeutender Teil unserer Mission, immer wieder zu erklären, was wir tun und warum wir es tun. Wir versuchen dabei immer auch, barrierearm zu sein.
Neben Ihren repräsentativen Aufgaben machen Sie schon nach wie vor auch aktive Politik. Was überwiegt? Ich nehme mir für beides Zeit. Als Präsidentin gehöre ich zu den wenigen hauptberuflichen Abgeordneten. Nach der Verfassung untersteht mir die Verwaltung der Bürgerschaft; da bin ich gewissermaßen Geschäftsführerin. Die parlamentarischen Abläufe müssen funktionieren und die Öffentlichkeit soll erfahren, was wir machen. Darauf haben Abgeordnete und Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch. Und in meiner Abgeordnetentätigkeit bin ich unterwegs wie meine Kolleginnen und Kollegen. In Rothenburgsort habe ich mein Abgeordnetenbüro. Es ist ja so, dass wir in Hamburg ein personifiziertes Verhältniswahlrecht haben, also alle um Personenstimmen werben, um ins Parlament zu kommen, um dann für die Hamburgerinnen und Hamburger Politik machen zu können.
Wie führen Sie als Bürgerschaftspräsidentin die Abgeordneten und die Fraktionen? Die führen sich schon ganz alleine. Meine Aufgabe ist es eher, zwischen den Beteiligten zu moderieren. Streit und Auseinandersetzung über Inhalte gehören zur parlamentarischen Arbeit. Aber Meinungsverschiedenheiten, etwa über die Geschäftsordnung oder darüber, was auf die Tagesordnung kommt, müssen nicht öffentlich ausgetragen werden. Das kann man gut und oft einvernehmlich vorher klären. Und das gelingt auch meist ganz gut.
Wer ist denn am bockigsten? Das ist natürlich ein Betriebsgeheimnis, aber die Antwort würde Sie überraschen (lacht). Wirklich bockig ist natürlich keiner, aber es gibt eben unterschiedliche Interessenlagen zwischen den Beteiligten. Am Ende müssen wir gemeinsam einen Schritt vorankommen und immer wieder Dinge ausprobieren. Früher hatten wir immer zwei Sitzungstage hintereinander am Mittwoch und Donnerstag und haben erst um 15 Uhr begonnen. Seit fast drei Jahren fangen wir um 13.30 Uhr an und tagen kompakt an einem Tag, jeden zweiten Mittwoch. Das war am Anfang nicht für alle Abgeordneten einfach, weil sie beispielsweise früher von ihrer Arbeit kommen mussten. Inzwischen will es niemand mehr anders haben. Wir haben gemeinsam die Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängert und das Wahlrecht ab 16 eingeführt, genauso wie das Transparenzportal und das Bürgerschaftsreferendum. Man muss immer wieder mal den Mut haben, miteinander etwas Neues auszuprobieren. Bei sechs Fraktionen dauert es natürlich mal länger, bis man sich auf eine Neuerung geeinigt hat. Mein Fokus ist immer darauf gerichtet, dass solche Dinge nicht immer gleich eine politische Links-Rechts-Diskussion auslösen, sondern man erst einmal darauf schaut, wie wir unser Haus stark machen. Da haben am Ende alle etwas davon.
Fällt es manchmal schwer, immer alle Fraktionen zu vertreten, etwa die AfD als neue Fraktion? Darüber hätte ich mich nicht zu beschweren; das gehört zu meinen Aufgaben. Aber im Ernst: Nein. Ich habe selbst die ersten Jahre als Bürgerschaftsabgeordnete in der Opposition verbracht und weiß, wie man sich da fühlt. Manchmal brauchen die Oppositionsfraktionen mehr Unterstützung als die Regierungsfraktionen, die immer noch einen ganzen Senat hinter sich haben. Chancengleichheit ist mir wichtig. Als gelernte Juristin ginge es mir sowieso gegen den Strich, unfair zu handeln. Natürlich habe ich politisch zu vielem eine eigene Meinung, aber wenn sich eine Bürgerschaftspräsidentin über die politische Ausrichtung der Fraktionen ärgern würde, könnte sie den Job nicht lange machen. Und was die AfD angeht: Die gibt sich ja gern als außerparlamentarische Opposition.
Sie sind seit rund 28 Jahren als Politikerin dabei. Was ist Ihr wichtigster politischer Erfahrungsschatz? Die wichtigste Erkenntnis, die sich auch ständig erneuert, ist zuhören zu können. Man muss sich manchmal verrückte Ideen auch bis zum Ende anhören, was manchmal mühsam sein kann, und am Ende stellt sich heraus, dass es sinnvoll war. Manchmal muss man aber Dinge auch schnell entscheiden. Genauso wichtig ist der Respekt unter uns Abgeordneten. Alle 120 Kolleginnen und Kollegen von mir bringen viel mit ins Rathaus und nehmen auch wieder viel mit hinaus ins Leben. Wir sind ja mehrheitlich Teilzeitparlamentarierinnen und -parlamentarier. Die Entscheidungen, die hier in der Bürgerschaft diskutiert und getroffen werden, speisen sich aus der ganzen Stadt. Genauso wichtig ist es, nach oben und unten zu schauen, zum Beispiel die Arbeit der Bezirksversammlungen ernst zu nehmen.
Was war die größte Überraschung in den über acht Jahren Ihrer Amtszeit als Bürgerschaftspräsidentin? Es fällt einem wenig einfach so vor die Füße. Weil man ja die parlamentarischen Abläufe kennt und weiß, wer welche Meinungen vertritt. Und man darf sich auch nicht wirklich überraschen lassen. In Einzelfällen bleibt es aber nicht aus. Womit ich ehrlicherweise nicht gerechnet habe, war das Nein zum Hamburger Olympia-Referendum im Herbst 2015.
Wie gehen Sie persönlich damit um, dass im Rathaus vor einiger Zeit jüdische Repräsentanten und Besucher beschimpft und sogar bespuckt werden. Sind alle guten bürgerlichen Sitten außer Kraft gesetzt? Zehn Meter weiter draußen vor dem Rathaus wäre es genauso schlimm gewesen. Wichtig ist, den Betroffenen sofort klar zu machen, dass wir an ihrer Seite sind. Das gilt für den Bürgermeister genauso wie für mich, und auch Hamburg hat dazu klar Haltung gezeigt. Hamburg ist eine weltoffene und tolerante Stadt. Darauf können wir alle stolz sein und daran arbeiten auch viele mit. Antisemitismus und Rassismus haben hier keinen Platz.
Sie haben jüngst Hassmails an Sie veröffentlicht, um zu sagen: Das lasse ich mir nicht gefallen. Muss man sich das in Internet- und Social-Media-Zeiten gefallen lassen? Natürlich nicht. Und ich tue das auch nicht. Wir als Politikerinnen und Politiker müssen uns diesen Herausforderungen aber stellen. Auch wenn es oft schwerfällt und die Versuchung manchmal da ist, etwa bei Facebook nicht mehr mitzumachen. Das geht aber für uns Politikerinnen und Politiker nicht, weil wir dort präsent sein müssen und es auch wollen. Schließlich möchten wir erreichbar sein und in Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern kommen. Angesichts der anstehenden Bürgerschaftswahl werden wir viel darüber sprechen müssen, wie man eine vernünftige Dialogkultur herstellen kann. Filterblasen gibt es nicht nur im Netz, sondern auch offline. Wir müssen wieder eine Situation herstellen, in der Fakten wahrgenommen und auch anerkannt werden. Politikerinnen und Politiker sind gefordert, noch deutlicher zu machen, warum sie etwas bewegt oder warum sie eine bestimmte Haltung haben.
Wie kann man gesellschaftlich wieder mehr Respekt gegenüber Politikern und vor politischer Arbeit herstellen? Nur wegen einiger ungehobelter E-Mails habe ich nicht ganz den Eindruck, dass es völlig an gegenseitigem Respekt fehlen würde. Aber wir müssen uns dem gefälligst stellen und gemeinsam unser Demokratiemodell noch einmal neu erkunden. Eine hohe Wahlbeteiligung würde schon helfen. Niemand hat ja eine andere, bessere Idee als unsere Demokratie. Wir sind ein freies Land, und Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen und Wähler sind eingeladen mitzudenken. Und neben den Parteien sind wir Politikerinnen und Politiker in Hamburg mit 121 Bürgerschaftsabgeordneten und noch einmal über 300 Bezirksabgeordneten gut sichtbar und ansprechbar in der Stadt. Es gibt viele Wege, Meinungen, Unmut, Ärger oder Anregungen loszuwerden.
Sind für Sie im Gegensatz zum Teilzeitparlament Bürgerschaft bei einem Berufsparlament hauptberuflich tätige Abgeordnete eine Alternative? Die Abgeordneten würden ja keine andere, womöglich bessere Politik machen, nur weil sich der Status ändert. Die Diskussion ist da, weil wir es mit stark veränderten Arbeits- und Familienwelten zu tun haben. Die Parlamentsarbeit ist ein zweiter Job, und wenn Sie dann noch Familie haben, müssen alle mithelfen, dass es klappt. Durch die Teilzeittätigkeit sind wir zum Glück ein recht großes Parlament.
Kann ein kleineres Vollzeitparlament effizienter arbeiten? Da bin ich mir nicht sicher. Diejenigen, die das fordern, müssen den Gedanken auch mal zu Ende denken. Dann hätte man vielleicht die Hälfte der Abgeordneten mit doppelt so viel Zeit. Im Ergebnis ist damit nicht viel gewonnen. Besonders für kleinere Fraktionen ist das nicht unbedingt besser. Ich bin ein Fan davon, dass wir viele, nämlich 121 Politikbotschafterinnen und -botschafter in der Stadt sind, die in den Stadtteilen, Bezirken und Wahlkreisen unterwegs sind. Darüber hinaus haben wir fast 20 Ausschüsse, die ja bespielt werden müssen. Und das stellt bei deutlich verkleinerten Fraktionen in einem Vollzeitparlament eine echte Herausforderung dar. Für mich müssen wir ein Parlament sein, das für alle Abgeordneten machbar ist und in dem die Bezahlung angemessen ist. Wie das gehen kann, müssen wir besprechen.
Am 23. Februar 2020 wird eine neue Bürgerschaft gewählt. Wenn die SPD erneut die stärkste Fraktion stellen sollte und somit das Vorschlagsrecht für die Bürgerschaftspräsidentin hätte: Würden Sie wieder antreten? Ich kandidiere für die nächste Bürgerschaft.
Und wenn am 23. Februar die Grünen plötzlich die größte Fraktion stellen sollten, was macht dann die Bürgerschafts-
präsidentin? Lassen Sie uns den 23. Februar abwarten.
Haben Sie ein wichtiges persönliches Wahlkampfthema? Ich habe mein Abgeordneten-bü-ro seit 14 Jahren in Rothen-burgsort. Für einen erfolgrei-chen Wahlkampf finde ich wich-tig, dass eine Partei eigene Themen setzen muss, und zugleich vor Ort in den Wahlkreisen genau hinhört, was die Menschen bewegt. Und die Themen müssen wir mit ins Rathaus bringen. Das ist kein Wahlkampf-, sondern ein Dauerthema. Unser Persönlichkeitswahlrecht sorgt zugespitzt für das individuelle Sichtbarwerden von Politik, aber das muss fünf Jahre lang sichtbar gemacht werden, nicht nur in Wahlkampfzeiten.
Gibt es für Sie ein persönliches Anliegen? Was im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen wird, ist Glaubwürdigkeit. Wer nimmt die Wünsche und Sorgen in der Stadt ernst? Und genauso wichtig wird das machbare Versprechen sein, also dass etwas nach der Wahl auch umsetzbar ist.
Apropos Glaubwürdigkeit. Müssen Politiker stärker Vorbilder sein? Mein Schlagwort ist das nicht, weil damit viel zu oft „ohne Fehl und Tadel“ gemeint ist. Für mich gibt es nicht den einen Typ, der dann ein toller Politiker oder eine tolle Politikerin ist. Für mich es wichtig, dass man als Politikerin und als Politiker vor allem authentisch ist. Und das ist einfach: Was ich sage, das meine ich auch so. Die Menschen sollen wissen, woran sie sind.
Authentisch ist auch Ihre Verbindung mit Rothenburgsort. Was hat der Stadtteil, was andere nicht haben? Rothenburgsort hat eine wahnsinnig spannende Lage. Das meine ich räumlich und inhaltlich. Rothenburgsort hat für mich Laborcharakter, wo alles aufeinander trifft: die großen Industriegebiete, die großen Verkehrsachsen und die vielen Wasseradern von Hamburg. Zugleich prägen Wohnen, Arbeit, Kultur und Kreativität das Quartier. Das Spannende daran ist, dass das eigentlich alles zusammen in einen Stadtteil passt. Deswegen gibt es in Rothenburgsort auch besonders viele wirtschaftliche und strategische Interessen: Wo können angesichts von Lärm und Luftverschmutzung Wohnungen gebaut werden und wo nicht, wo kann man stromaufwärts an Elbe und Bille Leben mit Qualität, wo Infrastruktur und wo moderne Arbeitsplätze schaffen? Rothenburgsort hat die besten Ideen und eine hohe Aufmerksamkeit verdient. Dort hat die Stadt die Chance zu zeigen, wie eine innovative Stadt auch nachhaltig gutes Leben ermöglichen kann.
Kann man das nicht auch in der HafenCity oder in Oberbillwerder? Doch, aber dort baut man neue Stadtteile auf der „grünen Wiese“ beziehungsweise auf der Brache und das muss kreativ, innovativ und nachhaltig sein und kann viel Bürgerbeteiligung von Beginn an organisieren. Aber wenn man das an einem Bestandsort machen will, wird es richtig herausfordernd: In bestehenden, extrem verdichteten und gemischten Stadtteilstrukturen die Lebensqualität zu erhöhen, etwas Neues zu schaffen und dabei noch das Mikroklima zu betrachten und zu schauen, wie man gezielt Regenwasser sammeln kann, obwohl zum Beispiel ein großer ansässiger Konzern vielleicht ein ganz anderes Interesse hat. Und dann muss man auch noch in den vorhandenen Auto- und Lkw-Strukturen Platz für Radfahrer schaffen und dafür sorgen, dass die Kinder sicher mit dem Bus zur Schule kommen. Das ist eine echte Aufgabe in Rothenburgsort; und dann kommen auch noch die Interessen der Nachbarstadtteile dazu, schließlich sollen alle zusammenwachsen.
Oder es kommt Sportsenator Andy Grote und will im Entenwerder Park immer noch ein großes Fußballstadion für Ligaspiele errichten. Im Moment ist Entenwerder, wie es ist, gut so.
Wie sagen Sie als Rothenburgsorterin zur HafenCity? Die ist ganz wunderbar! Wir in Rothenburgsort sind ja die natürliche Fortsetzung der HafenCity nach Osten. Inzwischen lieben die Hamburger die HafenCity zwischen Elbphilharmonie und Oberhafen. Sie hat zwar eine hohe urbane Dichte, die auch immer so geplant war, aber auch 20 Prozent Wasserflächen und anteilig wesentlich mehr Grünflächen als der Rest der inneren Hamburger Stadtteile.
Können die beiden Nachbarquartiere künftig stärker zusammenwachsen – spätestens, wenn es eine neue Brücke direkt vom Elbbrückenquartier in den Entenwerder Park geben wird? Beide Stadtteile werden voneinander profitieren. Da bin ich ganz sicher. Es kommt die wunderbare Brückenverbindung, U- und S-Bahn-Station werden beide Quartiere weiter beleben, und der Schulcampus HafenCity bietet bei aller Diskussion für Rothenburgsort, den künftigen Grasbrook und Teile der Veddel die Chance, sich neu zu verbinden. Und so werden ohne neuen Flächenverbrauch mitten in der Stadt neue Plätze zum Arbeiten und Wohnen geschaffen. In dem Zusammenhang entsteht auch eine aktive Bürgergesellschaft, die mit uns, der Politik in den Clinch geht und ihre Interessen laut und deutlich vertritt. Und genau das brauchen wir doch. Bürgerforen sind nicht mehr wegzudenken und wir nehmen das als Meinung der Bewohnerinnen und Bewohner – auch wenn sich nicht alle beteiligen – auch an.
Warum ist das gut? Unter anderem zwingen solche Foren Politik und Behörden dazu, gut zu erklären, warum etwas nicht oder anders oder später kommt, oder warum es noch einmal neu gedacht werden muss. Nichts ist fertig und irgendwann wird man überrascht feststellen, dass die eine oder andere Buslinie andersherum besser fährt, dass der Radweg zu schmal ist oder ein Zebrastreifen besser als eine Ampel wäre. Das ist dann wie im wahren Leben. Manches erkennt man nicht gleich. Menschen entscheiden sich auch immer mal wieder anders als in den besten Planungen angenommen Und wenn wir warten, bis alles zum 300. Mal geprüft ist, kommt auch nicht viel zustande. Vor meinem Fenster im Rathaus sind seit einigen Wochen Straßen für eine Zeit lang autofrei. Das wird halt einfach mal ausprobiert. Ich freue mich über das innovative Klima in Hamburg, dass solche Ideen dann nicht monatelang zerredet werden. Natürlich gibt es bei Betroffenen auch lebhafte Debatten und auch Ablehnung. Aber es hat sich durch das Ausprobieren viel zum Positiven in Hamburg geändert. All diese Prozesse stärken auch Toleranz und fördern ein Miteinander und den Respekt.
Haben Sie einen Lieblingsort in der HafenCity? Mir gefällt das denk.mal Hannoverscher Bahnhof für die Erinnerung an die Deportation von Juden, Roma und Sinti. Es ist eben kein Denkmal, sondern ein begehbarer Denkort, der Geschichte sichtbar macht. Und was ich nach wie vor mag, ist der Übergang von der HafenCity in den Oberhafen und hinüber nach Rothenburgsort. Ich nutze häufig den Radweg und entdecke immer wieder Neues.
Was macht den Reiz dieses Quartiers aus? Der raue Charme. Da trifft Alt auf Neu, Industrie, Kreativität und eindrucksvolle Bauten aller Zeitalter verbinden sich. Und durch die Wasserwege und die Fernbahnen entsteht zugleich ein Gefühl von Weite und mal Wegsein können. Und plötzlich merkt man, dass sich das alles auf einer zehnminütigen Fahrradstrecke abspielt. Das finde ich faszinierend.
Das Gespräch führte Wolfgang Timpe