Opferverbände und die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano protestieren gegen den Mitmieter, die Wintershall DEA Deutschland GmbH mit Nazi-Vergangenheit, im geplanten neuen Dokumentationszentrum Hannoverscher Bahnhof in der HafenCity
15 Jahre lang haben Opferverbände für ein Dokumentationszentrum am denk.mal Hannoverscher Bahnhof in der HafenCity gekämpft. Auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs soll an mindestens 8.000 Juden, Sinti und Roma aus Hamburg und Norddeutschland erinnert werden, die zwischen 1940 und 1945 vor hier aus in Vernichtungslager deportiert wurden. Nun droht das Vorhaben an der künftigen Nachbarschaft im Haus des Dolumentationszentrums zu scheitern. Denn in das neue Gebäude am Lohsepark, das 2023 fertig sein soll, will nicht nur im Erdgeschoss das Dokumentationszentrum einziehen. Die oberen Etagen hat der private Investor Harm Müller-Spreer an die Firma Wintershall Dea Deutschland GmbH vermietet, deren Vorgänger zu den Profiteuren des Nazi-Regimes zählten. Ausgerechnet.
Foto oben: Am Rande des Lohseparks wird in Ergänzung zum denk.mal Hannoverscher Bahnhof ein Dokumentationszentrum entstehen, in dem an die Deportation von über 8.000 Juden, Sinti und Roma erinnert wird. Der siebenstöckige Bau wird mit Backsteinen verklinkert. Der Sockel mit dem Dokumentationszentrum im Erdgeschoss setzt sich farblich ab und erhält eine große Glasfront. © Visualisierung: Wandel Lorch Architekten
Die Opferverbände, allen voran das Auschwitz-Komitee mit ihrer Vorsitzenden und Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano, sind entsetzt und protestieren. In einer schriftlichen Stellungnahme sagt die 96-jährige Bejarano: „Das ist eine Firma, die nicht zu uns passt. Kein Gedenkort unter einem Dach mit einem Konzern mit dieser NS-Vergangenheit.“ Es sei unzumutbar, dass ein NS-Nachfolgekonzern seinen Konzernsitz direkt in dem Gebäude einnehmen wolle, in dem der Opfer der Deportationen gedacht werden soll. Wintershall sei in der NS-Zeit Teil der aggressiven Aufrüstungs- und Kriegsführungspolitik gewesen und habe sich an der Ausplünderungspolitik der von den Nationalsozialisten okkupierten Länder beteiligt und Tausende Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in ihren Werken ausgebeutet.
Wintershall Dea gehöre heute zu 67 Prozent der BASF, einem Nachfolgekonzern der I.G. Farben, der früheren Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG in Frankfurt, die das erste firmeneigene KZ Auschwitz-Monowitz errichtete und Zyklon B in die Vernichtungslager lieferte. Dass sich die frühere Wintershall AG mit ihrer NS-Geschichte auseinandergesetzt habe und sich heute gegen Rechts engagiere, sei nicht zu kritisieren. „Aber qualifiziert das diese Firma, in guter Nachbarschaft mit einer Gedenkstätte zu leben, die den Opfern und Überlebenden der NS-Gewaltherrschaft gewidmet ist?“, fragt Esther Bejarano.
Auch die Hamburger Kulturbehörde, die das Projekt gemeinsam mit der HafenCity GmbH und den Opferverbänden von Anfang an vorangetrieben hat, zeigt sich irritiert. „Angesichts der historischen Belastung des Unternehmens wäre es zu erwarten gewesen, dass die HafenCity Hamburg GmbH, die Behörde für Kultur und Medien und vor allem die Opferverbände im Vorfeld von dem Eigentümer eingebunden werden“, sagt Behördensprecher Enno Isermann auf Nachfrage. Als offizielle Mieterin der im Erdgeschoss vorgesehenen Räume für das Dokumentationszentrum verweist die Kulturbehörde außerdem auf einen Vertrag über das Dauernutzungsrecht. Darin steht, dass sich der Eigentümer − also Investor Harm Müller-Spreer − verpflichtet, nicht an jemanden zu vermieten, der „in der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in der Wahrnehmung der Opfer des Nationalsozialismus … im Konflikt mit dem Zweck des Dokumentationszentrums steht … oder der Ausstrahlung eines Gedenkortes abträglich ist“. Über das weitere Vorgehen will sich die Kulturbehörde jetzt mit Opferverbänden, der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und der HafenCity Hamburg GmbH austauschen. Eine Erklärung des Investors sowie eine Stellungnahme von Wintershall Dea lägen bereits vor.
Wintershall Dea ist sich der Verantwortung bewusst, „dass die NS-Zeit ein schwarzes und schuldbehaftetes Kapitel sowohl von Wintershall als auch der Dea ist“, sagt Unternehmenssprecher Michael Sasse auf Anfrage. „Wir verstehen, wenn es Vorbehalte und Fragen von Opferverbänden gibt.“ Wintershall Dea habe aber seine Nazi-Vergangenheit auf eigene Initiative hin aufgearbeitet und engagiere sich heute gegen Rechts und setze sich aktiv ein für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Sasse: „Wir glauben, dass eine Nachbarschaft eine Chance bietet. Denn in der Erkenntnis, welche Geschichte wir haben und wer wir heute als Unternehmen sind, steckt eben auch eine Chance: Neben Anerkennung historischer Schuld und Verantwortung richten wir mit der Aufarbeitung und einer aktiven Positionierung den Blick auch in die Zukunft.“
Der Investor und Vermieter Harm Müller-Spreer sieht sich zu Unrecht angegriffen. Viele deutsche Firmen wie auch Familien seien verstrickt in die Nazi-Vergangenheit. Deshalb sollte „ein Unternehmen nicht nur an der Vergangenheit, sondern vor allem an seinem heutigen Handeln gemessen werden“. Wintershall Dea sei ein „hervorragendes Beispiel“ dafür. Auch den Vorwurf, bei der Vermietung zu wenig Sensibiltät für die Opfer gezeigt zu haben, lässt er nicht gelten. Im Gegenteil: Müller-Spreer verweist auf seine direkte Verwandtschaft mit dem Widerstandskämpfer Helmuth James von Moltke, der 1945 von den Nazis hingerichtet wurde. „Er ist der Großonkel meiner Kinder“, sagt der Investor, insofern zähle auch seine Familie zu den Opfern. Grundsätzlich kritisiert Müller-Spreer, dass die Opferverbände jede Form von Dialog ablehnten.
Tatsächlich bleibt für Esther Bejarano und ihre Mitstreiter das Verhalten des Investors „völlig unverständlich“. Er habe „ohne Rücksprache ignorant“ gegen das vereinbarte Dauernutzungsrecht verstoßen. Deshalb fordern die Opferverbände die Aufhebung der Verträge: „Haben wir den Mut und den Anstand und nehmen Rücksicht auf die Wahrnehmung der Überlebenden, ihrer Angehörigen und Freund*innen.“ Gerda Schmidt