HCZ-Kolumnist Jan Ehlert in seiner 77. »Literatur zur Lage« über die Ruinen des Lebens
Es soll das größte Gebäude weit und breit werden. Noch aber ist das Hochhaus vor allem eines: eine Ruine. „Es ist ein Skelett, kein Körper. Ein verwelkter Richtkranz hängt am rostigen Haken eines gelben Krans, in der Nachbarschaft des bisher Erreichten“, so beschreibt es Till Raether in seinem Roman „Die Architektin“, der mit dem Hamburger Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.
Foto oben. Noch aber ist das Hochhaus vor allem eines: eine Ruine. „Es ist ein Skelett, kein Körper. Ein verwelkter Richtkranz hängt am rostigen Haken eines gelben Krans, in der Nachbarschaft des bisher Erreichten.“ © Zitat aus dem Roman »Die Architektin« | © mauritius images / Jochen Tack / Alamy
Bei Raether ist es Otto, ein junger Journalist, der die Baustelle besucht und am Ende mit seinen Recherchen über Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung den Bau stoppen wird. Schaut man auf die stillstehende Baustelle des Elbtowers hier in der HafenCity, dann scheint Raethers Roman fast schon prophetisch. Als Vorlage für sein Buch diente ihm aber ein anderes Projekt: der Steglitzer Kreisel in Berlin, der ebenfalls wenige Jahre nach dem Baustart aufgegeben, dann aber von der Stadt aufgekauft und fertiggestellt wurde.
»Geduld erhält das Leben / Vermehrt der Jahre Zahl / Vertreibt und dämpft daneben / Manch Angst und Herzensqual.« Paul Gerhardt
Die HafenCity zeigt wie kaum ein anderer Stadtteil, dass Geduld mit großen Bauwerken sich auszahlen kann. Wer spricht heute noch über den anderthalbjährigen Baustopp der Elbphilharmonie? Und auch die Baugrube, die viele Jahre das Ende des Überseeboulevards zierte, ist nun geschlossen, und das lang erwartete Einkaufszentrum wird geöffnet.
Auch in der Literatur lesen wir immer wieder davon, dass geduldiges Warten sich irgendwann auszahlt. Sei es auf den verschwundenen Geliebten, wie in Johann Peter Hebels berührender Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“, oder auf die Aussöhnung mit der eigenen Familie, von der Dana Vowinckel in ihrem preisgekrönten Roman „Gewässer im Ziplock“ am Beispiel eines jüdischen Kantors und seiner Tochter erzählt.
„Geduld erhält das Leben / Vermehrt der Jahre Zahl / Vertreibt und dämpft daneben / Manch Angst und Herzensqual“, so heißt es in einem schönen Ostergedicht von Paul Gerhardt, das auch daran erinnert, dass auf jeden Winter ein Frühling folgt: Manches Problem, das uns in diesem Moment riesig erscheint, sieht ein paar Monate später schon viel weniger groß aus.
Das gilt natürlich nicht für alles. Aber noch mehr Geschichten gibt es darüber, was passiert, wenn die Geduld uns fehlt: Ein paar Sekunden länger warten, und Shakespeares Romeo hätte sich nicht erdolchen müssen. Und dass auch übereilte Bauvorhaben scheitern können, davon berichtet Nobelpreisträger William Golding in seinem Roman „The Spire“. Ob also dem Elbtower ein zweiter Frühling beschert sein wird, bleibt ungewiss. Aber selbst wenn nicht: Dann wird an seiner Stelle etwas anderes in der HafenCity erblühen. Warten wir es also einfach ab. Jan Ehlert