»Das Fenster zur HafenCity-Welt«

Zeitreise. Unser HCZ-Autor Jan Ehlert führt mit seiner Kolumne Literatur zur Lage seit vielen Jahren unsere Leser:innen durch die Aufs und Abs des Lebens und beschert uns mit seinen ein- und zugeordneten Fundstücken der Literaturgeschichte und den Dichtungen der Gegenwart. Lesen Sie mal, was ihm zur HafenCity und dem HCZ-Geburtstag so ein- und auffällt

Man hatte uns ja gewarnt: Als wir vor gut zehn Jahren in die HafenCity zogen, waren die Kommentare, die wir zu hören bekamen, fast immer die gleichen. Eine schöne Lage, sicher, aber: Da ist doch gar nichts los. Nur Wind, Wasser und Spinnen. Und tatsächlich konnte man schnell diesen Eindruck gewinnen. Die Elbphilharmonie war noch immer nicht fertig gebaut, der einzige Kiosk in unserer Straße machte wenige Tage nach unserem Einzug zu. Die einzige Bar, in der Osakaallee, wirkte weit, weit weg. Und so zogen wir anfangs etwas mutlos durch die windigen Straßen, standen ratlos vor den vielen Baustellen und fuhren weiter regelmäßig in die anderen, angesagteren Viertel der Stadt. Die HafenCity, das schien ein Stadtteil ohne Eigenschaften zu sein, mit Menschen ohne Eigenschaften. Schön, aber leer. 
Foto oben: Der entkernte Kaispeicher A, hier am 4. September 2010, wird das Wahrzeichen Elbphilharmonie: „Dank der HafenCity Zeitung haben wir immer noch das Gefühl, hier zu Hause zu sein.“ © Thomas Hampel

Doch so wie in Robert Musils großem Großstadtroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ stell­ten wir auch hier schnell fest, dass der erste Blick trügt – und dass der zweite Blick diesen Stadtteil umso liebens- und lebenswerter machte. Man musste nur wissen, wie man diesen Blick finden konnte. Für uns war dabei die Zeitung das Fenster zur HafenCity-Welt. „Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben“, heißt es bei Musil. Und so entdeckten auch wir dank der HafenCity Zeitung, wie viel Ungewöhnliches es hier in der HafenCity zu entdecken gab: Welche Pläne es für die „Elphi“ und die vielen damals noch unbebauten Plätze in der HafenCity gibt. Wo es sich wirklich lohnte, einzukaufen, und wer die Menschen dahinter waren. Warum die Bar in der Osakaallee alles andere als weit, sondern das eigentliche Herz des Stadtteils war, wo die Besucher sich frei machen konnten von fremden Eigenschaften. Wo sie sein konnten, wie sie sind. Und wo man sich andere Geschichten erzählte als von Wind, Wasser und Spinnen. 

Geschichten eines wachsenden Stadtteils, mit wachsenden Träumen und einer wachsenden Gemeinschaft. Und auch hier war es nicht zuletzt die HafenCity Zeitung, die uns nicht nur den Ort, sondern auch die Bewohner dieses Stadtteils vorstellte und uns einlud, sie kennenzulernen. Wie oft sahen wir Gesichter, die wir doch schon gedruckt gesehen hatten. Menschen wie wir, auf der Suche nach anderen, die den Schritt hierher gemacht hatten. Die Gesprächsthemen dazu lieferte die Zeitung gleich mit – und das in einem Umfang und einer Qualität, die unter Stadtteilzeitungen wirklich ihresgleichen sucht. 

Kolumnist Jan Ehlert zitiert den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert in Bezug zum Corona-Lockdown: Die Tür schließt sich hinter ihm und nun, so Borchert, „hatte man mich mit dem Wesen allein gelassen, nein, nicht nur allein gelassen, zusammen eingesperrt, vor dem ich am meisten Angst habe: Mit mir selbst“. © Privat
HCZ-Kolumnist Jan Ehlert zieht es immer wieder in die HafenCity. © Privat

Von dem großen Hamburger Zeitungsverleger Gerd Bucerius ist das Zitat überliefert, eine Zeitung könne man „nur in einem Kreis von Halbverrückten“ machen. Und genauso waren die Anfänge: Ohne die – im positivsten Sinne – Verrücktheit der Zeitungsmacherinnen und Zeitungsmacher wäre das Projekt der Stadtteilzeitung vermutlich schnell gescheitert. Wer sonst ist schon bereit, neben seinem eigentlichen Job noch so viel Zeit, Liebe und Fleiß in die Recherche und das Schreiben von Artikeln zu stecken. Ich erinnere mich noch gut an das erste Treffen mit dem damaligen Team. Ich war zu einem kritischen Schulterblick eingeladen und erzählte, was mir an der Zeitung gefiel und was ich weniger gelungen fand. Die Ernsthaftigkeit und die Offenheit, mit der wir damals über die richtige Überschrift oder die Trennung von Werbung und Journalismus diskutiert haben, hat mich sehr beeindruckt. 

Als schließlich das Team wechselte, dachten wir zunächst, dass damit auch das Ende der Zeitung absehbar war. Doch zum Glück war es ein weiterer Halbverrückter, der die Redaktion übernahm und der mit unermüdlichem Einsatz und Eifer hinter die Kulissen der HafenCity schaut und uns dabei mitnimmt. Bauprojekte im Baakenhafen, Neugründungen am Kaiserkai, neue Entwicklungen beim Westfield Überseequartier: Wer die HafenCity Zeitung liest, ist noch immer bestens informiert. Das ist sicher auch einer der Gründe, warum Politiker und Unternehmer nicht nur den großen Hamburger Tageszeitungen, sondern auch dieser Zeitung als Interviewpartner zur Verfügung stehen. Dass dabei neben der großen Politik immer auch der Blick auf das Kleine, Persönliche geblieben ist, auf die Menschen, die hier leben, macht den Mix so besonders. 

Egon Erwin Kisch, der reisende Reporter, der fast alle Ecken der Welt besuchte und beschrieb, hat das Geheimnis einer guten Berichterstattung wie folgt beschrieben: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt.“ Wir müssen also gar nicht so weit in die Ferne schauen, um spannende Geschichten zu finden. Sie liegen oft direkt vor der Haustür. Erst recht in einem Stadtteil, in dem sich auf so wunderbare Weise Geschichte und Fortschritt, Kultur und Wirtschaft, Unternehmertum und soziales Engagement ergänzen wie in der HafenCity. Es braucht nur gute Reporterinnen und Reporter, um diese Geschichten aufzuspüren. Und ein Medium, das diesen Geschichten ihren Raum gibt. 

Inzwischen wohnen wir nicht mehr in der HafenCity. Der Beruf hat uns an andere Orte geführt. Stadtteilzeitungen gibt es dort nicht. Und so stehen wir noch immer ratlos vor einigen Baustellen, auf denen nicht viel zu passieren scheint. Kaufen aus praktischen Gründen im größten Discounter des Stadtteils. Und die nächstgelegene Kneipe fühlt sich immer noch sehr weit weg an. Viele gute Gründe also, so oft wie möglich wieder an den alten Lebensmittelpunkt zurückzukommen. Die alten Geschäfte zu besuchen und in der alten Bar die alten Erinnerungen aufzuwärmen. Und auch wenn sich die HafenCity weiterhin unglaublich schnell verändert, bei jedem Besuch neue Wohnhäuser und Geschäfte dazugekommen sind: Dank der HafenCity Zeitung haben wir noch immer das Gefühl, hier zu Hause zu sein. Vielen Dank dafür! Jan Ehlert

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Jan Ehlert lebte in der HafenCity und kommt gerne wieder. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HCZ seine ­Kolumne »Literatur zur Lage«. – Besuchen Sie ihn mal auf Instagram: @jan.ehlert.kultur

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