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Falko Droßmann ist als Bezirkschef neben 18 anderen Stadtteilen auch für die HafenCity zuständig: „Wenn ich dieser Tage durch leere Einkaufsstraßen gehe, die mit ihrer Weihnachtsbeleuchtung wie ein Zitat aus einer anderen Zeit erscheinen, wird mir schwer ums Herz. Nein. 2020 hat mich nicht reicher gemacht.“ © Bezirksamt Hamburg-Mitte
»Bewusster mit uns und unseren Nachbarn umgehen«

Falko Droßmann, Bezirkschef von Hamburg-Mitte, notiert als HCZ-Gastautor die Schrecken des Corona-Jahres, beschreibt die Unfähigkeit zur Achtsamkeit und hofft auf authentische Zwischenmenschlichkeit in 2021

© Illustration: Tobias hahn | HafenCity Zeitung
© Illustration: Tobias hahn | HafenCity Zeitung

Das Jahr 2020 wird für mich als eines der herausforderndsten Jahre meines bisherigen Lebens in meiner Erinnerung bleiben. Es gibt nichts zu beschönigen. Jeder und jede von uns musste persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Die meisten von uns standen vor emotionalen, wirtschaftlichen, systemischen, organisatorischen und menschlichen Herausforderungen, die niemand vorhersehen konnte. Und es gibt Menschen unter uns, die schwere Erkrankungen erleiden mussten oder gar Freunde, Kollegen oder Angehörige an dieses verdammte Virus verloren haben.
Foto oben: Falko Droßmann ist als Bezirkschef neben 18 anderen Stadtteilen auch für die HafenCity zuständig: „Wenn ich dieser Tage durch leere Einkaufsstraßen gehe, die mit ihrer Weihnachtsbeleuchtung wie ein Zitat aus einer anderen Zeit erscheinen, wird mir schwer ums Herz. Nein. 2020 hat mich nicht reicher gemacht.“ © Bezirksamt Hamburg-Mitte

Eine meiner Hauptaufgaben bestand und besteht darin, die öffentliche Verwaltung aufrechtzuerhalten. Gerade die Bezirksverwaltung stellt die Daseinsvorsorge sicher. Während um uns herum immer wieder mit „Flatten The Curve“ und „Stay At Home“ notwendige Maßnahmen getroffen wurden, um Ansteckungen zu minimieren, waren große Teile des Bezirksamtes Hamburg-Mitte durchgängig geöffnet. 

Wir mussten getroffene Schutzmaßnahmen vollkommen zu Recht verteidigen.

Es gab hierzu keine Alternative. Die Fachstelle für Wohnungsnotfälle, das Fachamt für Grundsicherung, das Jugendamt und vor allem das Gesundheitsamt sind seit Februar im Dauereinsatz – zum Teil deutlich über die Belastungsgrenzen hinaus. Der Bedarf der oft geschmähten Bezirksverwaltung war und ist in der Krise größer denn je. 

Bezirkschef Falko Droßmann: „Während um uns herum immer wieder mit „Flatten The Curve“ und „Stay At Home“ notwendige Maßnahmen getroffen wurden, um Ansteckungen zu minimieren, waren große Teile des Bezirksamtes Hamburg-Mitte durchgängig geöffnet.“ © Bezirksamt Hamburg-Mitte
Bezirkschef Falko Droßmann: „Während um uns herum immer wieder mit „Flatten The Curve“ und „Stay At Home“ notwendige Maßnahmen getroffen wurden, um Ansteckungen zu minimieren, waren große Teile des Bezirksamtes Hamburg-Mitte durchgängig geöffnet.“ © Bezirksamt Hamburg-Mitte

Dass der Großteil meiner 1.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei allem Anspruch auf Objektivität und Verbindlichkeit von Verwaltungsentscheidungen trotzdem kreativ und unter Zurücknahme der eigenen Bedürfnisse das Notwendige ermöglicht haben, erfüllt mich mit Stolz. 

Obwohl ich aufgrund meines gelernten Berufs gut und intensiv in Krisen- und Konfliktbewältigung geschult bin, ist mir aber mitunter auch die sprichwört­liche Hutschnur geplatzt.« Falko Droßmann, Leiter des Bezirksamts Hamburg-Mitte mit 19 Stadtteilen

Überraschend war für mich der Drang vieler Menschen nach Normalität, wissend, wie fragil die Infektionslage ist. Ich bin im letzten Jahr glücklicherweise nur wenigen jener Idioten begegnet, die ihre eigene intellektuelle Beschränktheit zum Maßstab medizinischer Einordnungen oder staatlichen Handelns machen wollten, meist durch bewusste Regelverstöße oder laute, defätistische Sprechchöre. 

Es gab aber hunderte von Gesprächen, in denen wir die getroffenen Schutzmaßnahmen vollkommen zu Recht verteidigen mussten. Es hat sich als richtige Entscheidung herausgestellt, die Kontrollteams im Sommer auch durch Ärzte begleiten zu lassen. Sinnvoll, leidlich erfolgreich, aber auch aufwändig. Obwohl ich aufgrund meines gelernten Berufes gut und intensiv in Krisen- und Konfliktbewältigung geschult bin, ist mir aber mitunter auch die sprichwörtliche Hutschnur geplatzt. 

Ich erinnere mich an Ende September, als die Infektionszahlen wieder stiegen und wir jedes Wochenende bis tief in die Nacht versucht haben, Verständnis für die Regeln zu wecken und auch das Befolgen der Einschränkungen auf St. Pauli sicher zu stellen. Es gab so viele ungeklärte Fragen und Auslegungsdetails: Für die Gastronomen und Clubbetreiber existenzielle Fragen wie Hygienekonzepte, Kontaktlisten, Verkaufsverbot von Alkohol und Ähnliches beschäftigten uns intensiv – ebenso wie der Widerspruch zwischen Infektionsschutz und Freiheit.

Es gab und gibt viele Menschen, die sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen mussten. Viele Fachleute aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medizin haben versucht, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und dann lese ich in der Zeitung, dass unsere Justizbehörde sich mit der Luftbeimengung in Speiseeis beschäftigt und den Bundesrat in Marsch setzen will, um nun endlich die Fertigverpackungsverordnung ändern zu lassen. Sicher ist das ein wichtiges Thema. Für mich gab es aber in dieser Zeit nichts, was unwesentlicher war, als die Cremigkeit von Speiseeis. Zugegeben, das mag ein wenig unfair gegenüber Frau Senatorin Gallina sein – doch das Leben muss weitergehen. 

Diese Krise hat gezeigt, wie unfähig wir geworden sind, aufeinander zu achten.

Aber muss es das wirklich, so, wie wir es kennen? Kann es das überhaupt? An dieser Stelle müsste ich nun sicher noch etwas schreiben, wie sehr mich die Solidarität der Menschen untereinander überrascht hat. Aber das hat sie nicht. Unbenommen gab es Nachbarschaftshilfe beim Einkaufen und mehr Anrufe bei der Verwandtschaft als sonst. Aber ist das Solidarität? Meine Beobachtung ist eher, dass diese Krise gezeigt hat, wie unfähig wir geworden sind, aufeinander zu achten. 

Es bleiben Fragestellungen wie auf Gewinn ausgerichtete und deshalb unterbesetzte Pflegeeinrichtungen oder wie ethisch höchst bedenkliche Diskussionen um Triagen, wer etwa in der Notaufnahme zuerst behandelt werden soll. Ja, und bleibt die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebensentwurfs, was wichtig ist und was nicht, nur eine Erscheinung des Jahres 2020?

Wenn ich dieser Tage durch leere Einkaufsstraßen gehe, die mit ihrer Weihnachtsbeleuchtung wie ein Zitat aus einer anderen Zeit erscheinen, wird mir schwer ums Herz. Ich hoffe und wünsche mir, dass wir unsere Lehren aus diesem Annus Horribilis, diesem schrecklichen Jahr ziehen; dass wir bewusster mit uns, unserer Familie, unseren Freunden und Nachbarn in unserer Stadt umgehen. Und ich hoffe, dass uns 2021 dazu die Möglichkeiten geben wird. Nein. 2020 hat mich nicht reicher gemacht. Falko Droßmann

Falko Droßmann ist Leiter des Bezirks Hamburg-Mitte mit seinen 19 Stadtteilen, die neben St. Pauli, (Hafen-)City, Neu- und Altstadt von Rothenburgsort bis Finkenwerder und von Wilhelmsburg bis Billstedt reicht.

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