Kunst. HCZ-Autorin Dagmar Leischow sprach mit der Direktorin Kathrin Baumstark über die neue Ausstellung »Sean Scully. Stories«im Bucerius Kunst Forum
Wenn Kathrin Baumstark, die Direktorin des Bucerius Kunst Forums, über Sean Scully spricht, merkt man sofort: Sie brennt wirklich für ihn und seine Kunst. Zu seinem 80. Geburtstag, den der Ire, aufgewachsen im Süden Londons, kürzlich gefeiert hat, widmet die Kunsthistorikerin ihm nun die Retrospektive Sean Scully. Stories. Gezeigt werden bis zum 8. November Werke aus mehr als sechs Jahrzehnten – neben großformatigen Gemälden auch Arbeiten auf Papier, Skulpturen sowie Fotografien.
Foto oben: Bucerius Kunst Forum-Direktorin Kathrin Baumstark: „Im Audioguide gibt nur Zitate des Künstlers Sean Scully. Kein Satz ist von mir.“ © Ulrich Perrey
Ein Exponat sieht man sogar, ohne überhaupt das Bucerius Kunst Forum betreten zu müssen. Vor der Tür steht ein „Air Cage“ auf dem Flanierboulevard Alter Wall. Nicht alle scheinen diese Skulptur allerdings als Kunstwerk zu respektieren. „Es sind schon Leute darauf herumgeklettert“, erzählt Kathrin Baumstark. Abgesehen von der Unfallgefahr könnte der „Air Cage“ dabei natürlich beschädigt werden.
Besser geschützt ist der „Coin Stack“ in der Eingangshalle. „Ich fand es passend, diese Skulptur neben der Kasse zu platzieren“, sagt Kathrin Baumstark. Denn diese Arbeit geht zurück auf ein Ritual von Sean Scullys Vater, einem Barbier. Er zählte immer freitags sein Trinkgeld, also die Münzen, die er bekommen hatte. Diese Geschichte brachte der Künstler persönlich Kathrin Baumstark nahe, vorab hat er ihr einige Interviews gegeben: „Er hat mich tief in sein Leben hineingelassen.“ Deshalb zog sie aus ihren Gesprächen nicht bloß die Ausstellungs- und Katalogtexte, sondern lässt Sean Scully sogar im Audioguide selber zu Wort kommen: „Es gibt nur Zitate des Künstlers. Kein Satz ist von mir.“

Vermutlich hat Sean Scully gespürt, dass Kathrin Baumstarks Interesse ernsthaft war: „Ich war neugierig auf ihn, weil ich noch nicht alles verstanden hatte.“ Genau das trieb sie an, diese Schau in Hamburg zu präsentieren: „Man kann keine Ausstellung kuratieren, wenn man schon alles weiß.“ Als Kathrin Baumstark die Werke auswählte, hatte sie folgende Frage im Hinterkopf: Warum erkenne ich einen Scully sofort? Charakteristisch für ihn sind vor allem große Gemälde mit Schachbrettmuster, entstanden aus groben Pinselstrichen.
Wenn man sich jetzt im Bucerius Kunst Forum sein Bild „Chancery Rents“ von 1962 anschaut, erkennt man bereits dort seine Vorliebe für Blöcke, für Linien, für Strukturen. Andere Werke wie „Man in Chair I“ von 1966/67 sind dagegen vom deutschen Expressionismus geprägt. So reist man durch die Kunst jenes Mannes, der zunächst an 30 Kunsthochschulen abgelehnt wurde, bevor er einen Studienplatz bekam. Statt an weißen Wänden, wie sonst üblich, hängen die Arbeiten im Bucerius Kunst Forum an grau getünchten Wänden. Die Farbe Weiß sei ihr zu kalt gewesen, erläutert Kathrin Baumstark. Sie hat die Schau ganz bewusst chronologisch konzipiert: „Ich möchte zeigen, woher Sean Scully kommt und wohin er geht.“
Auch Aquarelle, Bleistiftzeichnungen oder Fotos helfen dabei, in seine Welt einzutauchen: „Sean Scully war nicht nur ein Berserker, es gibt auch poetische Werke.“ Fast schon apokalyptisch ist dagegen „Lost Land“ von 1985. Dieses brachiale Gemälde entstand, nachdem Sean Scullys 18-jähriger Sohn bei einem Autounfall gestorben war. Danach war für ihn nichts mehr, wie es mal war. Dunkle Farben symbolisieren, dass sich sein Blick auf die Welt plötzlich verdüstert hat. Ein rostbrauner Block bildet den Verfall ab, das verlorene Land.
Ganz am Ende der Retrospektive findet sich „Tower“ von 2024, das jüngste Werk des Künstlers. Bei diesem Schwarz-Weiß-Gemälde, inspiriert von Kubismus und Graffiti-Straßenkunst, sticht vor allem eins ins Auge: ein Loch. Für Kathrin Baumstark bietet es allerlei Interpretationsspielraum – eine Variante: „Dort, wo sonst das Herz sitzt, ist ein Loch.“ Dagmar Leischow
Info Die Retrospektive „Sean Scully. Stories“ läuft bis zum 2. November im Bucerius Kunst Forum. Karten und weitere Informationen unter www.buceriuskunstforum.de