Bei der kommenden Bundestagswahl will der heutige Bezirkschef Falko Droßmann das Direktmandat der SPD für den Wahlkreis Hamburg-Mitte gewinnen – mit klarer sozialer Kante
Sagen Sie mal Herr Droßmann, warum brauchen Berlin und der Deutsche Bundestag eigentlich Falko Droßmann? Ist der Bezirk Mitte zu klein geworden? Falko Droßmann (lacht): Die Frage ist frech. Ob Berlin und der Bundestag mich brauchen, weiß ich nicht. Aber ich bin der Überzeugung, dass ich in diesem Bezirk so viel gelernt habe, dass ich gern in Berlin mal die richtigen Fragen stellen würde. Warum wird zum Beispiel eigentlich in der gesamten sozialen Arbeit nur mit dem Unglück von Menschen Geld verdient? Ein Beispiel: Wenn eine Familie Probleme mit der Erziehung ihrer Kinder hat, wenden sich Kita oder Schule an das Jugendamt und das beantragt sogenannte Hilfen zur Erziehung bei einem Unternehmen oder einer gemeinnützigen Gesellschaft. Für diese Dienstleistung gibt das Bezirksamt Mitte pro Jahr 70 Millionen Euro aus und die Summe steigt von Jahr zu Jahr. Die beauftragte Firma bekommt aber nur Geld, solange es der Familie schlecht geht, weil die nach Stunden bezahlt werden. Es gibt also keinerlei Anreiz, zu einer Besserung zu kommen. Und das ist falsch! Wenn ich aber für ein Haus der Jugend eine Parkbank brauche, fehlen mir 5.000 Euro. Oder ich möchte im Bundestag Fragen zu Corona-Konsequenzen stellen und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Nehmen Sie die Corona-Zahlen in Hamburg. Dass die Inzidenz in den belasteten Stadtteilen immer höher war als in anderen, war doch ein überdeutlicher Warnschuss, dass wir uns mehr darum kümmern müssen.
Foto oben: Bezirkschef Falko Droßmann /SPD) möchte in Berlin Spuren hinterlassen: „Ich kann hier arbeiten so viel ich will, von Hamburg-Mitte aus kann ich nichts an den Grundsätzen verändern.“ @ Privat
Ist das Sozialarbeitersystem grundsätzlich falsch, weil es immer nur Symptome kuriert? Das ist so. Wir haben zwei Dinge in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik vernachlässigt: Das eine ist die staatliche Daseinsvorsorge. Ein Mensch muss sich darauf verlassen können, dass Gesundheitsvorsorge, das Rettungswesen, der Katastrophenschutz oder die Pflege funktionieren. Und das ist nicht mehr so! Das andere ist, dass wie schon gesagt in der sozialen Arbeit mit dem Unglück der Menschen Geld verdient wird. Ich weiß, das ist eine harte Aussage, aber ich kann es an Dutzenden Beispielen belegen und ich habe Alternativvorschläge, wie man es machen könnte.
Was würden Sie anders machen? Um ein Beispiel zu geben: Ich gebe den Trägerverbänden, meinen Dienstleistern in der Sozialarbeit, 70 Millionen Euro und sage ihnen: Du musst nicht mehr begründen, wofür du das Geld ausgibst. Du hast einfach nur dafür zu sorgen, dass es den Familien besser geht. Das Geld gebe ich sowieso aus. Die Stadt Graz in Österreich hat mit einer „Sozialraum-Budgetierung“ vorgemacht, wie es besser geregelt werden kann.
Was läuft dann besser? Es geht darum, Hilfen zuverlässig zur Verfügung stellen zu können. Das funktioniert nur mit einer Budgetierung. Wenn ein Träger erst dann Geld für die Betreuung von Jugendlichen bekommt, wenn es einen akuten Fall gibt, wird dieser Träger nicht dauerhaft Plätze für solche Fälle vorhalten können. Und das ist das Problem. Es wird nichts vorgehalten, weil das System komplett kapitalisiert ist. Das geht doch nicht. Die Menschen müssen sich doch darauf verlassen können.
VITA: Falko Droßmann wurde am 11. Dezember 1973 in Wipperfürth bei Köln geboren, ging mit 17 Jahren zur Polizei in Nordrhein-Westfalen und holte sein Fachabitur nach. Er studierte an der Uni der Bundeswehr in Hamburg Geschichtswissenschaften, schloss mit Magister Artium ab und wurde Berufsoffizier. Der 46-Jährige ist seit 2001 in der SPD und wurde 2011 Chef der SPD-Bezirksfraktion in Mitte. Seit 25. Februar 2016 ist er Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte und seit 1. Oktober 2017, dem Tag der Einführung der Ehe für alle, mit seinem Partner Danny verheiratet.
Und warum muss Falko Droßmann deshalb nun in den Bundestag? Weil ich dieses System hier als Bezirksamtschef verantworte, Gesetzeskonform umsetze und agiere, aber weiß: klug ist das nicht.
Das heißt, wenn Sie in den Bundestag gewählt würden, werden Sie Sozialpolitiker? Ja, aber was ist eigentlich ein Sozialpolitiker? Ich habe 48.000 Unternehmen in Hamburg-Mitte und die meisten wollen soziale Arbeitgeber sein. Wir machen es ihnen aber an vielen Stellen gar nicht möglich.
Das heißt, ein Praktiker will nach Berlin? Ja, ein Praktiker will nach Berlin, von praktischen Erfahrungen berichten und den Abgleich zwischen Theorie und Praxis überprüfen. Ich kann hier arbeiten so viel ich will, von Hamburg-Mitte aus kann ich nichts an den Grundsätzen verändern. Und das wird meinem eigenen Anspruch nicht gerecht.
Sind Sie paragraphenmüde? Nein, aber wenn ich die Sinnhaftigkeit von Gesetzen bezweifle, möchte ich den Menschen wenigstens anbieten, die Themen in Berlin zu diskutieren und sie zum Besseren verändern. Hier geht es doch um Menschen. Wenn wir über klimaneutrale Unternehmen reden, müssen wir auch daran denken, dass der Arbeiter in Billbrook vor allem erst einmal Angst um seinen Arbeitsplatz hat.
Haben Sie Angst vor grünen dominierenden Mehrheiten, der SPD als möglichen Juniorpartner? Nein. Die SPD und ich haben die deutlich besseren Argumente. Die Grünen haben ihre Rolle als Klientelpartei für eine akademisierte wohlhabende Schicht in unserer Bevölkerung. Das machen Sie gut. Aber als Sozialdemokrat bin ich dafür da, die Gesellschaft zusammenzuhalten, das macht es manchmal schwerer und herausfordernder. Ein flotter Spruch hilft da nicht.
Warum wird die SPD im Bund für ihre Arbeit nicht belohnt? Egal wer voran geht, ob Olaf Scholz oder andere, die SPD wirkt wie einbetoniert bei zehn Prozent plus X. Ist das nicht ein angekündigter Tod auf Raten? (er lacht) Nein! Also erstens leben Totgesagte länger, wie man weiß. Und wir hier in Hamburg wissen doch, wovor die Menschen wirklich Angst haben, dass sie die Miete nicht mehr zahlen können und keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Das hat Olaf Scholz in Hamburg geändert und zwar mit Druck, mit Anspruch, mit Führung. Politik kann er. Er hat kluge Konzepte. Ich habe im letzten Jahr in Hamburg-Mitte 1.408 Wohnungen genehmigt – aufgrund der Mechanismen, die Olaf Scholz eingeführt hat. Wenn wir das in allen urbanen Gebieten hinbekommen, hilft das sehr vielen Menschen.
Was fehlt der SPD dann, um erfolgreicher zu sein? Ich teile Ihre Prämisse nicht. Mit Malu Dreyer haben wir in Rheinland-Pfalz gezeigt, dass sich gute Politik mit starken Persönlichkeiten auch in guten Wahlergebnissen niederschlägt. Deshalb möchte ich bei diesem Schlechtreden der SPD nicht mitmachen. Es ist ein politischer Wettbewerb, ein Wettbewerb um Ideen und meine Partei hat sehr konkrete Ideen. Daran kann man sich arbeiten.
So erfolglos wie in Sachsen-Anhalt? Sachsen-Anhalt ist jedenfalls nicht gerade das Paradebeispiel für Deutschland.
Nennen Sie mir drei Gründe, warum man am 26. September die SPD wählen sollte? Erstens: Ich bin seit vielen Jahren in Mitte tätig und seit sechs Jahren Bezirksamtsleiter. Ich kann nur jeden auffordern, mich daran und an meinen Ergebnissen zu messen. Zweitens geht es darum, die Gesellschaft zusammenzuhalten, das heißt, wir müssen für alle Gruppen etwas tun, nicht für Klientelineressen. Die einzige Partei, die das anbietet, ist die SPD. Und drittens: Wir haben konkrete Lösungsvorschläge für die Probleme und nicht nur blumig-grüne Ideen.
Birgt der Anspruch, für alle da sein zu wollen, nicht die Gefahr, als profillos wahrgenommen zu werden? Da haben Sie ein wenig Recht. Wir, die SPD, müssen uns wieder viel mehr auf unsere Stärken konzentrieren. Wir sind die Partei, die dafür sorgt, dass wir gesellschaftliche Gruppen nicht hinter uns lassen und dass die Erfolgreichen auch endlich ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten. Wir müssen unseren SPD-Markenkern wieder schärfen.
Glauben Sie wirklich, dass Olaf Scholz Erfolg haben wird als Kanzlerkandidat? Ich bin der festen Überzeugung, dass er eine echte Alternative zu den Laschets und Baerbocks ist. Er hat Erfahrung und Mut und hat das auch schon oft gezeigt.
Die Kanzlerkandidat:innen Annalena Baerbock (Grüne) und Armin Laschet (CDU) werfen Sie in einen Pott? Ja, weil sie austauschbar sind.
Warum austauschbar? Ich sehe keine inhaltlichen Unterschiede, nur der Aufkleber ist ein anderer. Die Grünen sind eine zutiefst konservative Partei geworden, wenn man sich nur mal das Baden-Württemberg von Winfried Kretschmann anguckt mit den schlechtesten Zahlen, wenn es um Wohnungsbau und Emissionsschutz geht.
Johannes Rau und Helmut Schmidt sind Ihre Vorbilder. Was möchten Sie von den beiden weiterleben und weitertragen? Es ist der Mut von beiden. Sie sind beide ihrer Rolle gerecht worden. Als die großen Fabriken und Zechen geschlossen wurden, hat Johannes Rau sich vor Hunderttausende Arbeiter gestellt und gesagt: Ich konnte eure Arbeitsplätze nicht erhalten. Diesen Mut zu haben, hat mich früh tief beeindruckt und er ist auch honoriert worden. Oder Helmut Schmidt, der ja auch eine gewisse Arroganz an den Tag gelegt hat (lacht), hat mir imponiert. Er hat seine Meinung immer deutlich unangepasst gesagt und das gefällt mir. Ein Fehler der Politik im Allgemeinen ist das Akademisierte, also Probleme nicht mehr klar zu benennen, sondern nur noch zu umschreiben. Meine Vorbilder Rau und Schmidt haben sich dagegen zu ihrer Verantwortung bekannt und die Probleme immer benannt.
Ab 1. Juli sind Sie als als Bezirksamtschef bis zum 26. September im Urlaub und machen Wahlkampf. Ist der Bezirk Mitte jetzt ohne Führung? Die Gesamtverantwortung habe ich dennoch weiterhin, aber ich muss auch für die Glaubwürdigkeit des Amtes geradestehen. Ich werde auch keine öffentlichen Termine mehr wahrnehmen, um nicht in den Verdacht der Wahlbeeinflussung zu geraten.
Apropos. Was ist der Sexappeal am Bundestag? Ich glaube an dieses Land und daran, dass wir allen Menschen Chancen geben müssen. Und das tun wir derzeit nicht und das belastet mich. Von heute aus kann ich hier in Hamburg nur Symptome behandeln, aber nicht nachhaltig etwas ändern. Das ist es, was mich am Bundestag reizt. Es sind die inhaltlichen Dinge.
Wie realistisch ist die politische Vision von Ihnen, dass sich die SPD nach dem 26. September erneut in einer Regierungskoalition befindet? Ich bin Erststimmenkandidat und will die Stimme der Menschen in meinem Wahlkreis in Berlin sein.
Warum sind Sie nicht klassisch auf der Landesliste abgesichert? Ich habe darauf verzichtet, weil ich von den Menschen direkt gewählt werden möchte. Ich sage auch ganz ehrlich: Wenn ich in Berlin auftrete, möchte ich das auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein tun. Dafür brauche ich den Rückhalt der Menschen. Wenn ich den nicht habe, habe ich auch in Berlin nichts verloren.
Was ist denn, wenn Sie nicht gewählt werden? Dann endet meine Zeit als Bezirksamtschef im Februar 2022 und dann werde ich gucken müssen, wie ich damit umgehe und ob ich in meinem alten Beruf als Oberstleutnant der Luftwaffe gebraucht werde oder sich neue andere Chancen ergeben.
Empfinden Sie eine Rückkehr zur Bundeswehr als Gefühl der Sicherheit oder eher als Sackgasse? Ich war 20 Jahre Soldat und immer überzeugt von dem, was ich getan habe. Eine Rückkehr ist deshalb nicht das, was ich mir wünsche, aber eine echte Option.
Mit wem soll die Zukunft in Deutschland gestaltet werden? Unter der Führung von Olaf Scholz und gemeinsam mit der Partei, die am meisten sozialdemokratische Inhalte zulässt. Aber eine große Koalition ist nicht der Weg der Demokratie, viel Vertrauen bei den Menschen zu gewinnen. Ich könnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, mit einem Hans-Georg Maaßen von der CDU in Thüringen in einer Koalition zu sein. So wie er spricht, redet man nicht über Menschen.
Was hat Ihr Mann zu Ihren politischen Plänen gesagt? Der Gute kann sich, glaube ich, auch eine Woche lang mal alleine beschäftigen (lacht). Wir haben das natürlich vorher besprochen und er unterstützt mich wirklich vollkommen.
Was wünschen Sie sich an Unterstützung, wer finanziert Ihren Wahlkampf und was kostet so ein Kandidaten-Wahlkampf überhaupt? Das wird schon eine sechsstellige Summe sein – für Social Media, Flyer, Kugelschreiber, Saalmieten oder die Unterhaltung eines Büros. Das ist nicht profan. Ein kleiner Teil davon kommt von der Partei über Parteispenden, aber ein gewisser Teil kommt auch von meinem privaten Konto. Und es gibt einige Unterstützer, die mich überrascht haben und über die ich mich sehr freue. Das sind zum Beispiel Jugendliche in Mümmelmannsberg, Prostituierte auf Pauli, die eine Aktion für mich gestartet haben oder auch eine Pommesbude. Die sind dankbar, dass wir uns auch in Zeiten der Pandemie um sie gekümmert haben. Das ist schon sehr beeindruckend, das sind aber nicht die großen Industriespenden.
Was ist Berlin für Sie? Hamburg ist wunderschön und mein Zuhause. Auch wenn Berlin vielleicht nicht die schönste Stadt der Welt ist, so ist es aber unsere Hauptstadt und noch viel mehr Weltstadt. Aber Berlin ist Berlin und da muss man immer mal wieder hinfahren. Berlin ist deutsche Geschichte und auch deshalb für mich als Historiker faszinierend.
Politiker haben schon immer einen zweifelhaften Ruf gehabt, so schlecht wie heute war er selten. Warum wollen Sie trotzdem in die Berliner Politik, die 2.000 bis 3.000 Euro mehr plus Büroausstattung werden es vermutlich nicht sein … also erstens ist es nicht so viel mehr, wie Sie sagen. Zweitens bin ich jetzt als Beamter für sechs Jahre gewählt. Stattdessen gehe ich in ein Amt, in das ich alle vier Jahre neu gewählt werden müsste. Aber ich bin ein riesiger Fan von Demokratie, auch von Streit und von der Freiheit, alles sagen zu können. Das darf man als Bürger in vielen Ländern nicht. Ich liebe diese Republik.
Wer gönnt Ihnen den Erfolg, wer würde es Ihnen nicht gönnen? Die schärfsten Beobachter sind die Leute in der eigenen Partei und die Menschen, die sich wirklich etwas von mir erhoffen. Die Mitarbeiterin der Elternschule, die seit 30 Jahren aktiv ist und mich ermutigt hat zu kandidieren. Die guckt sehr kritisch, dass ich bei meinen Themen bleibe und nicht blende.
Sozialpolitik ist ein Thema, was jetzt nicht per se attraktiv und angesagt ist. Kann man mit Sozialpolitik überhaupt was „ernten“? Ich weiß nicht, ob man was ernten kann. Man muss sich kümmern. Unsere Gesellschaft driftet auseinander. Auch in unserem Wahlkreis in Hamburg gibt es immer mehr Menschen in Altersarmut, auch wenn man sich das nicht vorstellen kann. Ich war nie ein Wohlfühl-Bezirksamtsleiter und ich werde auch nie Wohlfühl-Politiker sein. Aber meine Aufgabe als Politiker muss es sein, dass sich immer mehr Menschen wohlfühlen können.
Das Gespräch führte Wolfgang Timpe