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Buchautor Johann Scheerer mit Personenschützern in seiner Jugend: Die Bodygourds steckten ihm Kondome zu, manchmal ballerte er mit ihren Waffen herum, er ließ sich von ihnen ein paar Selbstverteidigungstricks beibringen. © Stefan Schmid
Irgendwie dazugehören

Nach der Entführung seines Vaters bekam Johann Scheerer Bodyguards. Wie beklemmend das war, erzählt er in seinem Buch „Unheimlich nah“

Fragt man Johann Scheerer nach seinem Beruf, so antwortet er, er sei Musikproduzent. Seit 2005 betreibt er sein eigenes Tonstudio Clouds Hill Recordings in Hamburg-Rothenburgsort. Dort nahm unter anderem der Brite Pete Doherty ein Album auf, der mit seinen Drogenexzessen mindestens so viele Schlagzeilen machte wie mit seinen Songs. Über ihn hätte Johann Scheerer vor ein paar Jahren ein Buch schreiben sollen, das lehnte er aber ab.

Foto oben: Buchautor Johann Scheerer mit Personenschützern in seiner Jugend: Die Bodygourds steckten ihm Kondome zu, manchmal ballerte er mit ihren Waffen herum, er ließ sich von ihnen ein paar Selbstverteidigungstricks beibringen. © Stefan Schmid

Musikproduzent Johann Scheerer: „Ich komme nie zu spät und ertrage es nicht, wenn andere zu spät kommen.“ © Stefan Schmid
Musikproduzent Johann Scheerer: „Ich komme nie zu spät und ertrage es nicht, wenn andere zu spät kommen.“ © Stefan Schmid

 Stattdessen arbeitete der Sohn des Germanisten Jan Philipp Reemtsma, Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und der Psychologin Ann Kathrin Scheerer 2018 in seinem autobiografischen Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ einen traumatisierenden Moment seiner Familiengeschichte auf. 

Als er 13 war, wurde sein Va-ter, ein Millionenerbe, gekidnappt. 33 Tage hielten ihn die Entführer in einem Keller gefangen – bis zur Lösegeldübergabe. Wie Johann Scheerer diese aufreibende Zeit erlebte, brachte er seinen Leser*innen auf 240 Seiten nahe.

Nun ist mit „Unheimlich nah“ eine Fortsetzung erschienen, die dort ansetzt, wo der erste Teil endete. Johann Scheerer erzählt, wie sich sein Leben nach der Entführung radikal verändert hat. Er war auf einmal ein Teenager mit Bodyguards, Personenschützer begleiteten ihn rund um die Uhr, das Familienanwesen in Hamburg-Blankenese wurde von Objektschützern bewacht. 

Allerdings klammert sich der 38-Jährige in seinem zweiten Buch nicht akribisch an seine eigene Vergangenheit, sein Coming-of-Age-Roman vermischt Fiktion und Wirklichkeit zur sogenannten Autofiktion. Bei seiner Livestream-Lesung im Literaturhaus verhehlt der Autor im Gespräch mit der Journalistin Johanna Adorján nicht, dass er einige Figuren erfunden hat. Dennoch kehrt Johann Scheerer, ein schlaksiger Typ mit Hipster-Bart und tätowierten Armen, die er an diesem Abend unter einer dunklen Jacke versteckt, auch dieses Mal wieder sein Innerstes nach außen. Man leidet mit ihm, wenn er sich bei einem Date im Kino dauernd von einem seiner Sicherheitsleute beobachtet fühlt oder sich morgens ganz früh zum Gymnasium chauffieren lässt, damit seine Klassenkameraden nicht mitkriegen, wie er aus dem schwarzen BMW steigt, der ihn ständig begleitet. Er sei während seiner Schulzeit der Einzige mit Personenschutz gewesen, erinnert er sich. Für einen 14-Jährigen war das eine enorme Belastung. Schließlich wollte er damals nur eins: irgendwie dazugehören.

Wenn Johann Scheerer, der das Schreiben als sein Hobby bezeichnet, über sich spricht, macht er manchmal längere Pausen. Er wählt jeden Satz mit Bedacht – wie sein Vater, der als Wortpedant gilt. Dabei scheint das Vater-Sohn-Verhältnis früher nicht das allerbeste gewesen zu sein. Johann Scheerer lässt Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch als einen schroffen Mann auftreten, er schildert ihn als einen Menschen mit wunden Punkten, der zu viel Whisky trinkt. Wie habe sein Vater darauf reagiert, möchte Johanna Adorján wissen. „Bücher sind ihm sehr wichtig“, sagt Johann Scheerer. „Darum findet er es gut, dass es mein Buch gibt.“

Fragt man Buchautor Johann Scheerer nach seinem Beruf, so antwortet er, er sei Musikproduzent. Seit 2005 betreibt er sein eigenes Tonstudio Clouds Hill Recordings in Hamburg-Rothenburgsort. © Stefan Schmid
Fragt man Buchautor Johann Scheerer nach seinem Beruf, so antwortet er, er sei Musikproduzent. Seit 2005 betreibt er sein eigenes Tonstudio Clouds Hill Recordings in Hamburg-Rothenburgsort. © Stefan Schmid

So erfährt man bei dieser Veranstaltung einiges über Johann Scheerer und sein Umfeld. Weil er sich als Jugendlicher permanent mit seinen Personenschützern abstimmen musste, ist er bis heute ein Pünktlichkeitsfanatiker: „Ich komme nie zu spät und ertrage es nicht, wenn andere zu spät kommen.“ Auf der anderen Seite hat er sich inzwischen eine gewisse Lässigkeit angeeignet, er schließt niemals sein Auto ab, sein Mobiltelefon lässt er recht sorglos irgendwo liegen. Schade, dass Johanna Adorján an dieser Stelle nicht nachhakt, wie es zu dieser Veränderung gekommen ist. 

Man hätte gern gewusst, wann und wie Johann Scheerer den Punkt erreichte, an dem er sich endlich von seinen Bodyguards lösen konnte.

Diese harten Kerle haben ihn als Teenager ziemlich stark geprägt. Er strebte danach, von ihnen „cool und  männlich“ gefunden zu werden. Sie steckten ihm Kondome zu, manchmal ballerte er mit ihren Waffen herum, er ließ sich von ihnen ein paar Selbstverteidigungstricks beibringen. Zugleich beunruhigte ihn die permanente Präsenz der Personenschützer aber auch. In seinem Buch fragt Johann Scheerer an einer Stelle: „Wie übermächtig musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?“ Dagmar Leischow

Buchkritik von „Unheimlich nah“ von Johann Scheerer:

Der Autor Johann Scheerer bringt in seinem neuen Buch, das sein Erstlingswerk „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fortsetzt, abermals seine Familiengeschichte aufs Tableau. Im ersten Band ließ er die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma aus seiner Sicht Revue passieren, nun setzt er sich mit der Zeit danach auseinander. 
Man muss den ersten Teil aber nicht gelesen haben, um den zweiten zu verstehen. Was diesmal anders ist: Der Hamburger hält sich nicht mehr strikt an die Fakten. Er vermischt Fiktion und Wirklichkeit, wenn er sich damit auseinandersetzt, was es für einen Teenager bedeutet, plötzlich Personenschutz zu haben. Man erlebt einen Ich-Erzähler, für den es Normalität nicht mehr gibt. 
Er ist gnadenlos offen, immer wieder stellt er sich und sein Leben infrage. Das ist so fesselnd, dass man sich am Schluss noch einen dritten Teil wünscht. Einfach weil man sich fragt: Wie hat sich Scheerer letztlich abgenabelt? DL
„Unheimlich nah“ von Johann Scheerer; Piper Verlag, 2021; ISBN 978-3-492-05915-2; 22,00 Euro, 331 Seiten.

Lesungen von Johann Scheerer

• Mi., 10. Februar, 20 Uhr, München, Literaturhaus,   Livestream  

• Di., 16. Februar, 19.30 Uhr, Frankfurt, Literaturhaus, Livestream 

INFO 

Weitere Informationen unter www.piper.de

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