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»Mit Gemeinsinn und echter Teilhabe anfangen«

Essay. Pastor Frank Engelbrecht fragt sich für 2023: Ist die Demokratie noch zu retten? Kleiner möchte er es nicht und setzt auf drastische Veränderungen bei Umwelt und Menschenrechten

Zeitenwende“ – das Wort hat im vergangenen Jahr zu Recht Karriere gemacht, benennt es doch, was wir alle wissen: So wie bisher können wir nicht weitermachen – und da ist die Wehrhaftigkeit unserer Armeen noch die kleinste Herausforderung. Wie ein strenger Lehrer, der mit nassem Schwamm die fröhlichen Kreidebilder seiner Schulklasse zum Unterrichtsbeginn von der Tafel wischt, hat das Jahr 2022 unsere Pläne und Hoffnungen für das neue 21. Jahrhundert gelöscht. 
Foto oben: Pastor Frank Engelbrecht von der Hauptkirche St. Katharinen blickt zurück: „Beseelt vom Rückenwind des Mauerfalls waren wir uns gewiss, dass Demokratie, Menschenrechte und Klima­gerechtigkeit auf der Siegerstraße sind. Dafür haben wir 2015 das Klimaabkommen von Paris bejubelt.“ © Catrin-Anja Eichinger

Wir wollten ein Jahrhundert des Friedens ausrufen, die Traumata von zwei Weltkriegen samt Holocaust und Atomwaffenabwurf über Hiroshima und Nagasaki hinter uns lassen. Beseelt vom Rückenwind des Mauerfalls waren wir uns gewiss, dass Demokratie, Menschenrechte und Klimagerechtigkeit auf der Siegerstraße sind. Dafür haben wir 2015 das Klimaabkommen von Paris bejubelt. 

Doch spätestens seit dem 24. Februar 2022, dem Überfall Russlands auf die Ukraine, stehen wir da wie Schüler vor besagtem Lehrer mit Schwamm, die weder für die Klassenarbeit gelernt noch die Hausaufgaben erledigt haben – und fragen uns: Können wir die anstehenden Prüfungen dennoch bestehen? Schaffen wir noch die Kurve beim Klimawandel? Retten wir die Artenvielfalt? Stoppen wir das Auseinanderfallen unserer Gemeinschaften in unzählige Filterblasen? Ist die Demokratie noch zu retten? 

»Eine Neuorientierung unserer Existenz in Raum und Zeit ist vielleicht die letzte Chance unserer Spezies, auf einer unberechenbaren und verwildernden Erde zu neuer Blüte zu finden.«

Jeremy Rifkin, „Das Zeitalter der Resilienz“

Fangen wir bei den Antworten von hinten an: Die Stärkung der Demokratie ist alternativlos. Eine zunehmend komplexe Welt braucht entsprechend komplexe Steuerungssysteme. Der Traum vom guten Alleinherrscher, der von seinem Thron aus weise Komplexitätsreduktionen organisiert und so zu nachhaltigen Lösungen kommt, ist kindisch und funktioniert höchstens im Märchen. Wo dieses Märchenland sich aber anschickt, in die wirkliche Welt einzutreten, wandeln sich die schönen Träume vom Führer und Retter in Albträume der Diktatur. 

Wir brauchen die Demokratie mehr denn je, aber die bekommen wir nicht umsonst, sondern nur mit mündigen Bürger:innen, die Kraft, Lust und Ressourcen haben, mit ihrem Engagement über sich selbst hinauszugehen. In der Mathematik macht Minus mal Minus Plus, unter uns Menschen aber multiplizieren sich Egoismen nicht von selbst zum Besten für alle. Zeitenwende bedeutet hier, dass wir begreifen: Teilhabe und Engagement gehören elementar zu unserer Menschlichkeit. Eingebunden sein, Resonanz erleben, Wirken und Mitwirken bilden die Grundlage und Mitte unseres Lebens. Sie sind nicht bloß etwas, das wir auch noch machen, wenn wir noch etwas Zeit übrig haben. 

Entsprechendes gilt für unser Verhältnis zur Natur. Wir leben in und aus der Natur. Damit diese einfache Einsicht greift, bedürfen wir einer grundlegenden Zeitenwende. Denn unserem landläufigen Bewusstsein nach ist die Natur uns etwas Äußerliches. Diese Weltsicht resultiert aus der Vorherrschaft der exakten Wissenschaft mit ihrer technisch-rationalen Vernunft, die ihrem Wesen nach die Gegenstände unserer Forschung objektiviert und subjektive Einflüsse so weit wie möglich außen vorlässt und eliminiert. 

Das macht uns die Welt zur Umwelt, an deren Rand wir als Beobachter stehen, um sie zu begreifen und für unsere Zwecke zu nutzen. Bedeutung und Sinn liegen in dieser Perspektive nicht in der Natur, auch nicht in unserer eigenen, sondern sind Projektionen, soziale Konstruktionen oder auch lediglich eine Leistung unseres Bewusstseins. 

Das ist keine Polemik wider die exakte Naturwissenschaft und ihre wertvollen Erkenntnisse. Aber das ist ein Widerspruch gegen ihren Alleinvertretungsanspruch in Sachen Rationalität und Erkenntnis. Denn in diesem Alleinvertretungsanspruch gehen uns entscheidende Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten verloren, die sich einstellen, wenn wir die Welt beispielsweise mit den Mitteln der Kunst, der Musik und Poesie oder, hier schreibt der Pastor, des Glaubens betrachten. Sie alle eröffnen uns die Möglichkeit, unsere Natur, das Leben in uns und um uns herum, die Natur unseres Planeten und auch des Universums als Resonanzraum zu erfahren – und uns selbst als Teil eines Ganzen zu begreifen, das erfüllt ist mit Bedeutung, Eigensinn und Würde. 

Da treten wir nicht als Herrscher auf, sondern mit Ehrfurcht, da konsumieren wir nicht bloß, sondern gehen ins Zusammenspiel, hören zu und empfangen, anstatt nur zu verlangen. Und an die Stelle von Beobachtung und Analyse treten Engagement und die Bereitschaft, dass wir uns riskieren. Zeitenwende hieße dementsprechend, beide Perspektiven, die rational-technische Vernunft und die ästhetische, poetische oder auch geistliche Erkenntnis, ins Gleichgewicht miteinander zu bringen. 

Die Verachtung oder der Kampf gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, wie sie beispielsweise Kirchen in ihrer Geschichte immer wieder versucht haben und in Teilen bis heute betreiben, hat hier ebenso wenig Raum wie die Verkleinerung der Erkenntnis aus Kunst und Religion als reine Geschmacksache oder Privatangelegenheit. 

Die unfassbare Schönheit des blauen Planeten, von der alle Astronauten in ihren Raumkapseln oder bei ihrem Gang über den Staub des Mondes erzählen, ist eben nicht nur schöne Schwärmerei. Denn die daraus folgende Mahnung zum Innehalten und zu Demut sind in der Zeitenwende, die wir brauchen, um Demokratie, Menschenwürde, Klima und Artenvielfalt zu bewahren, wenigstens ebenso ernst zu nehmen wie der klare Blick der Naturwissenschaft auf unsere Möglichkeiten. Oder, um auf die Erde zurückzukehren: Unsere Rührung über Kinder und unsere Freude an der Natur samt der Sorge um ihrer aller Zukunft muss als Argument ebenso Gewicht haben dürfen wie ökonomische oder technologische Logik. Da sind wir heute noch nicht. 

Vielmehr erachten wir die Sorge über die Kinder und die Natur als verständlich, aber letztlich sentimental, auf jeden Fall ohne entscheidendes Gewicht in der Debatte über die Frage, wie und von was wir leben wollen. Diejenigen beispielsweise, die bei uns in der HafenCity auf die Straße gehen, um mehr Raum für die Kinder bei der aktuellen Debatte um den temporären Standort der weiterführenden Schule im Lohsepark fordern, des Campus HafenCity. Oder die, die mehr Grün, Tempo 30 und den Rückbau von vierspurigen Straßen wollen. Oder die, die den Kopf schütteln über das kommende Betonmonster eines Elbtowers oder die Konsumtempel im südlichen Überseequartier. Sie alle erscheinen in der Öffentlichkeit im besten Fall als symphatische Idealisten, im schlimmsten Fall als begriffsstutzige Störende, weil sie die städtebaulich-ökonomische Logik einfach nicht begreifen wollen – die gerade diese Stadt ausmacht. 

Aber was macht Hamburg denn inhaltlich aus? Polemisch zugespitzt könnten wir sagen: ein Zuviel an Bodenversiegelung mit Stein und Beton, die Wasser- und andere Ressourcenkreisläufe behindert; eine Elbe, die fortwährend verschlickt; eine Autostadt mit der fortgesetzten Priorität des Individualverkehrs, der die dazugehörigen Straßen als zentrale Gestaltungsprinzipien unserer öffentlichen Räume ausweist – und: eine wachsende Schere zwischen Arm und Reich und eine zunehmende Einkapselung der Menschen in ihren jeweiligen Milieus. So kann die Stadt nicht bleiben, in der Demokratie, Gemeinsinn, Klimagerechtigkeit und Artenvielfalt nachhaltig ein Zuhause finden. 

Darin herrscht Einigkeit unter den seriösen Vertreter:innen sowohl der Naturwissenschaft als auch von Musik, Literatur, Poesie, Kunst und Religion. Richtig verstanden, Herr Lehrer, und Prüfung doch noch bestanden? Ja! Fehlt nur noch, dass wir von der Theorie in die Praxis kommen, und das bitte zügig. Fangen wir also gleich in 2023 hier in der HafenCity und an der Altstadtküste an: mit Gemeinsinn, Demokratie und echter Teilhabe, Klimaschutz und viel Grün sowie für die Artenvielfalt. Frank Engelbrecht

Nachrichten von der Hamburger Stadtküste

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