Erinnern. Am ehemaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort wurde der vom Nazi-Euthanasie-Programm ermordeten Kinder gedacht – und ein Denkmal, ein Erinnerungsort, eingeweiht
„Weißt du, wie viel Sternlein stehen …“ Die eindringlichen Töne einer einsamen Oboe erklingen vor dem ehemaligen Hauptportal des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort in der Marckmannstraße. Die Stuhlreihen auf dem Grünstreifen vor dem beeindruckenden Backsteinbau aus den 1920er-Jahren sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch außerhalb der Hecke auf dem Fußweg und im Straßenraum lauschen Veranstaltungsgäste der bekannten Melodie, einige summen dazu oder singen mit. Das bekannte Abend- und Wiegenlied legt sich wie ein dämpfender Teppich über den Verkehrslärm der Straße.
Foto oben: Gedenkveranstaltung für ermordete Säuglinge und Kleinkinder am ehemaligen Kinderkrankenhaus von Rothenburgsort – auch mit Familienangehörigen. Auch Dr. Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer, zählt zu den geladenen Gästen. Für ihn ist es unfassbar, wie seine „Kolleginnen und Kollegen, deren Aufgabe das Heilen und Helfen war, sich zu Gehilfen einer grausamen und menschenverachtenden Ideologie haben machen lassen“. © Maike Brunk
Gut 200 Menschen haben sich zur Einweihung eines lange überfälligen Denkmals versammelt, darunter zahlreiche Angehörige der in der NS-Zeit hier ermordeten Kinder. Vereinzelt hört man englischsprachige Unterhaltungen, ein Mann legt für seine ermordete Schwester einen kleinen Zweig vor dem neuen Denkmal nieder: einem neutral anmutenden Schattenriss einer Krankenschwester, die ein Kleinkind im Gitterbett versorgt. Daneben informiert eine Tafel über die Hintergründe, eine weitere listet Namen und Alter vieler hier getöteter Kleinkinder auf.
Im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms wurden zwischen 1940 und 1945 mindestens 127 Säuglinge und Kleinkinder in der Rothenburgsorter Kinderfachabteilung ermordet, deren Leben zum Beispiel aufgrund von Behinderungen als „lebensunwert“ eingestuft wurde.
Die auf Initiative der Stolperstein-Historikerin Hildegard Thevs gegründete Arbeitsgruppe „Gedenkort ehemaliges Kinderkrankenhaus Rothenburgsort“ setzte sich bereits viele Jahre für ein würdiges Denkmal ein, konnte aufgrund fehlender Zustimmung des Eigentümers aber zunächst nur temporäre Projekte umsetzen. Bereits 2019 wurde auf Initiative von Schülerinnen und Schülern der Stadtteilschule Bergedorf ein Kinderbett mit stilisierten Pflegekraft-Figuren und einer Informationstafel aufgestellt.
Durch den beharrlichen Einsatz der Arbeitsgruppe wurde in Zusammenarbeit mit dem Künstler Wolfgang Wiedey nun eine dauerhafte Installation geschaffen, die an das Schicksal der Opfer würdig erinnert und zugleich eine Mahnung für zukünftige Generationen darstellt. Die Unterhaltung und Trägerschaft des Gedenkortes übernimmt das Bezirksamt Hamburg-Mitte.
Melanie Schlotzhauer, Senatorin für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration, betont in ihrer Ansprache, wie wichtig es auch heute sei, „überall dort, wo Unrecht geschieht, nicht wegzusehen, sondern aktiv für die Demokratie einzustehen“. Ebenso wie Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit und Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte, Ralf Neubauer, dankt sie den vielen Beteiligten für ihr wichtiges Engagement für diesen Gedenk- und Erinnerungsort.
Nach der Eröffnung der Veranstaltung und ersten Reden vor dem Gebäude begeben sich die Gäste in den Hofbereich des heute vom Institut für Hygiene und Umwelt genutzten Areals. Der Künstler Wolfgang Wiedey mahnt alle Anwesenden zum langsamen und zuhörenden Gang über das Gelände. Weitere Ansprachen mit musikalischem Rahmen sind innerhalb des Gebäudes vorgesehen.
Schülerinnen und Schüler der Stadtteilschule Bergedorf haben sich über das Gelände verteilt, durch das die Besucher nun andächtig schreiten. Einige Schüler stehen am Rand der Zufahrt, einige Schülerinnen haben sich auf Steine oder Podeste gestellt, einige stehen auf einem Treppengang. Jeweils ausgestattet mit einer großen Liste verlesen sie einzeln die Namen getöteter Kinder. Die Gäste sind sichtlich bewegt und verharren doch erstarrt im Moment des Erklingens der Namen der toten Kinder. Die Gespräche verstummen und schaffen Platz für stilles Gedenken.
Auch Dr. Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer, zählt zu den geladenen Gästen. Für ihn ist es unfassbar, wie seine „Kolleginnen und Kollegen, deren Aufgabe das Heilen und Helfen war, sich zu Gehilfen einer grausamen und menschenverachtenden Ideologie haben machen lassen“. Für die Ärztekammer und ihn persönlich sei es daher wichtiger denn je, die Verantwortung für diese beschämende Wahrheit anzunehmen.
Keiner der an der systematischen Kindertötung Beteiligten wurde gerichtlich belangt. Maike Brunk