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Im Vergessen liegt die Freiheit?

Rückzugsort. as Foto oben zeigt das frühere Kloster der Karmeliterinnen in Finkenwerder. Auch wenn Johanna Sebauers Roman „Nincshof “ ein fiktiver Ort ist: Der Wunsch, die Welt außen vor zu lassen, ist längst nicht nur an Stammtischen real. Die Kolumne des HCZ-Kolumnisten Jan Ehlert geht in seiner monatlichen Kolumne „Literatur zur Lage“ auf Korrespondenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit ein.

© Foto oben: picture alliance/dpa | Axel Heimken

Nincshof will von der Welt vergessen werden. Niemand, der nicht hierhingehört, soll noch den Weg in das burgenländische Dorf am Neusiedler See finden, das beschließen der Bürgermeister und seine Mitstreiter am heimischen Stammtisch, mit Speckwürfeln im Mund und Schnapsgläsern in der Hand. Und so werden Wegweiser heimlich abgebaut, Interneteinträge gelöscht und der Name des Dorfes aus allen Akten so gut es geht gestrichen. Denn nur im Vergessenwerden, so die Parole der Nincshofer, liegt die Freiheit.

»Ach, dass der Kahn mich holen müsst / aus dieser ­bangen, bangen Zeit / dass ich den Weg zu finden wüsst / zur Insel der Vergessenheit« Anna Ritter, † 1921, Schriftstellerin

Es ist eine skurrile, herrlich komische Welt, die sich die Hamburger Autorin Johanna Sebauer ausgedacht hat und für die sie gerade mit dem Debütpreis des Hamburger Harbourfront Literaturfestivals ausgezeichnet worden ist. Doch auch wenn Nincshof ein fiktiver Ort ist: Der Wunsch, die Welt außen vor zu lassen, ist längst nicht nur an Stammtischen real. Vor ein paar Jahren baten zum Beispiel die französischen Lavendelbauern darum, ihre Felder nicht mehr zu besuchen. Hunderttausende Influencer hatten für das perfekte Foto die Pflanzen büschelweise ausgerissen und ganze Felder zertrampelt. Donald Trump und die britischen Brexiteers hatten versucht, ihre Länder und deren Wirtschaften abzuschotten, um so wieder zu alter Stärke zurückzufinden. Und auch in Deutschland werden die Rufe nach stärkeren Grenzkontrollen laut. Denn Veränderungen bringen Ängste mit sich – und an Veränderungen ist sie wahrlich nicht arm, unsere Zeit. 

Kolumnist Jan Ehlert zitiert den Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert in Bezug zum Corona-Lockdown: Die Tür schließt sich hinter ihm und nun, so Borchert, „hatte man mich mit dem Wesen allein gelassen, nein, nicht nur allein gelassen, zusammen eingesperrt, vor dem ich am meisten Angst habe: Mit mir selbst“. © Privat
HCZ.Kolumnist Jan Ehlert lebt in der HafenCity. Seine Passion sind Bücher. Er schreibt monatlich für die HafenCity Zeitung seine ­Kolumne »Literatur zur Lage«. © Privat

Dabei ist der Wunsch, von der Welt vergessen zu werden, so alt wie die Literatur. „Ach, dass der Kahn mich holen müsst / aus dieser bangen, bangen Zeit / dass ich den Weg zu finden wüsst / zur Insel der Vergessenheit“, fasste die deutsche Dichterin Anna Ritter diesen Wunsch im 19. Jahrhundert in Verse. Die griechischen Philosophen der Antike widmeten sich ihm ausführlich. Und Karl Philipp Moritz ließ seinen Anton Reiser aus genau diesem Anliegen ins Kloster gehen: „Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz für ihn.“

Sich im Kloster oder in einer Einsiedelei von der Welt abwenden, das steht weiterhin jedem frei. Doch sich als Gemeinschaft von der Welt abzuschotten, das kann nicht funktionieren. Und grenzt all jene aus, die oft auch nur einen Ort zum Vergessen suchen: nämlich das Leid und die Angst, die sie auf der Suche nach diesem Ort hinter sich gelassen haben. Das ist etwas, was wir bei allen Wünschen nach Abgeschiedenheit niemals vergessen sollten. Jan Ehlert

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